Der Offenburger Ölberg von Johannes Werner - die Ortenau 1975 - 170 ff.


"...die Darstellung des Leidens Christi in allen seinen Stationen,
mit zeitgenössisch gekleideten Soldaten drumherum, damit kei-
ner meine, ihn gehe das nichts an."
Adolf Holl, Jesus in schlechter Gesellschaft

Ölberg Offenburg bei dez Heilig-Kreuz-Kirche - großer Nischenbau mit einem Netzrippengewölbe. Er trägt die Jahreszahl 1524Als das Abendmahl gefeiert war, begab sich Jesus mit den Jüngern zum Garten Gethsemane am Fuße des Ölbergs; nur Petrus, Jakobus und Johannes folgten ihm ins Innere, wo sie sich niederließen. Jesus entfernte sich auch von ihnen und sprach zum Vater im Gebet, welches er mehrmals unterbrach, um die mittlerweile schlafenden Begleiter zu ermahnen. Nach ausgestandener Todesangst, die ihm den Schweiß wie Blutstropfen hervortrieb, und endlich vollzogener Unterwerfung erschien ein Engel und stärkte ihn. Dann weckte Jesus die drei, da schon der Verräter mit den Häschern nahte, ihn zu fangen. - So etwa erzählen es, bei geringer Differenz im einzelnen, die Evangelien (Mt 26, 36-46; Mk 14, 32-42; Lk 22, 39-46).

Es ist auffallend, mit welcher Vorliebe das späte Mittelalter eben diese Szene, eine der kontrast- und spannungsreichsten des Passionsgeschehens, plastisch gestaltete; wenn auch, was dabei herauskam, niemals die ihm gebührende Aufmerksamkeit gefunden hat(1). Ausgangs des 15., anfangs des 16. Jahrhunderts verlangte im südlichen Deutschland jeder Ort, der auf sich hielt, nach einem "Ölberg" neben seiner Kirche. Besonders taten sich hierin die Bischofsstädte hervor: umfangreiche, lebensgroße und kleinteilige Arrangements entstanden in Speyer, Konstanz, Straßburg, auch andernorts(2). Und nachdem sogar das Reichsstädtchen Gengenbach die Absicht bekundete, "ein steinyn ölberg mit bilden (...) ufrichten und buwen zu loßen"(3), mochte die Offenburger Hauptkirche als rechtsrheinische Statthalterin des Straßburger Bistums nicht zurückstehen und gab ebenfalls einen Ölberg in Auftrag, der mit Recht unter die wichtigsten seiner Art sich zählen darf(4). Anders nämlich als der in Straßburg selber, den er mit geringerer Meisterschaft nachahmte, blieb er vollständig und in situ, d.h. am alten Ort, erhalten (während sein früh beschädigtes Vorbild ins dortige Münster verbracht wurde).

Er soll, nach guter Tradition, zunächst beschrieben werden, und zwar mit den Worten einer längst vorhandenen, doch auch längst verschollenen Beschreibung, die wieder ans Licht zu bringen schon allein deswegen sich lohnt; zugleich wegen ihrer sensiblen Versenkung ins Detail, in dem sie freilich bereits den Sinn des Ganzen wahrzunehmen verstand - dabei so manches registrierend, was heute, fast achtzig Jahre später, gar nicht mehr genau zu sehen ist.

"Einzig in seiner Art, was gute Konservierung betrifft, ist der Ölberg im badischen Amtsstädtchen Offenburg an der Kinzig. (...)

Er steht in einer Art von gotischer Kapelle, deren bunt bemaltes Netzgewölbe sich in hohem Rundbogen gegen den Haupteingang der Kirche öffnet. Im Eckpfeiler rechter Hand ist eine Laterne ausgehöhlt, mit einem Thürchen nach außen und einer Fensterrahmung nach dem Bildwerk zu. Die ewige Lampe, die hier wohl brannte, warf des Abends ihren Schein gerade auf die Hauptfigur, den knieenden Heiland. (...)

Den vorderen Abschluß der in Terrassen ansteigenden Scene - denn an eine solche fühlt man sich lebhaft erinnert - bildet faschinenartiges Flechtwerk; es soll die Erde des Vordergrundes halten und ist zugleich eines der Mittel, wodurch die Scenerie als Garten gekennzeichnet wird. Allerhand Blumen und Kräuter von Stein sprießen zwischen den Faschinen. Ein zierlich geformtes Täfelchen, das an dem Flechtwerk befestigt ist, trägt ein (...) Künstlermonogramm und die Jahreszahl 1524, während ein zweites Täfelchen von gleicher Form uns meldet, dass 1820 das Denkmal renovirt wurde.

Auf dieser vordersten und zugleich tiefsten Terrasse nun, die von den Faschinen gehalten wird, sind die drei Jünger des Herrn symmetrisch verteilt. Linker Hand sehen wir im tiefsten Schlafe hingestreckt Jakobus; seine Rechte hält noch das Buch, worin er zuletzt gelesen. Johannes nimmt die Mitte ein; er sitzt auf einem aus unregelmäßigen Steinen aufgeschichteten Sitze. Das bartlose, von Locken umrahmte Haupt hat er in die Linke gestützt, die Augen sind im Halbschlummer geschlossen, doch die Rechte blättert noch mechanisch in einem Buche, das auf seinem linken Knie liegt. Rechts in der Ecke, dem Jakobus linker Hand entsprechend, kauert Petrus. Er hat sich soeben von der Erde aufgerichtet, offenbar durch den Waffenlärm der im Hintergrund auftauchenden Häscher geweckt. Nur mühsam bringt er die von Schlafsucht schweren Lider auseinander und, die seinem Meister drohende Gefahr erkennend, tastet er nach seinem Schwert, das samt Wehrgehäng vor ihm an der Erde liegt. Das cholerische Temperament des Apostels kommt ebenso in den energischen Gesichtszügen wie im Faltenwurf seiner Gewandung zum Ausdruck: es ist, wie wenn der Sturm in dem weiten Mantel wühlte, der ihm zu Häupten flattert.

Hinter den drei Apostelgestalten erhebt sich das Gelände zu einer zweiten Terrasse. Diesmal nicht durch Faschinen, sondern durch eine Art von Weinbergmauer gestützt. Auch an ihr wachsen allerhand Blumen und Ranken hinauf, deutlich lassen sich Farrenkräuter und Disteln, auch Wegerich- und Erdbeerstauden unterscheiden, echt deutsche Pflänzchen, die in der Flora Palästinas kaum vorkommen dürften. In den Lücken und Ritzen der mit Absicht unregelmäßig geschichteten Mauer brachte der Künstler allerhand kleines Getier an, vor allem fette Weinbergschnecken, doch auch eine Kröte, der eine Schlange nachstellt, eine zierliche Eidechse und ein allerliebstes Mäuschen. (...)

Die Terrasse nun, welche diese naturalistisch mit Flora und Fauna ausgestattete Mauer stützt, steigt von links nach rechts ein wenig an und trägt, als einzige Gestalt, den Heiland. Im Profil nach rechts gewandt kniet er mitten im Raum, also gerade über dem Johannes der unteren Terrasse. Die zum Gebet gefalteten Hände sind meisterhaft geformt; man sieht alle Adern und selbst die feinsten Fältchen an den Gelenken. Das lockige Haupt (...) erhebt Christus etwas nach oben, einem kleinen Engelbilde zu, das mit Kelch und Kreuz von der Höhe eines Steinwürfels herniederschwebt. Dieser Steinwürfel zeigt dieselbe unregelmäßige Struktur, wie die vorhin beschriebene Stützmauer, als deren erhöhte Fortsetzung er sich darstellt. Die unregelmäßigen Bruchsteine und Platten überspinnt sorgfältig ausgemeißelter Epheu; auch die Schnecke fehlt nicht, die aus einem Spalt hervorlugt.

Die Häscher sind in der damaligen Zeittracht (16. Jahrhundert) gekleidet und in ihrer abschreckenden Häßlichkeit und Gewöhnlichkeit scharf charakterisierte Gestalten
Hinter Jesus, parallel mit der Gartenmauer, zieht sich eine meterhohe Bretterwand durch den Raum. Sorgfältig ist die Struktur des Holzes, die Nagelung der einzelnen Bohlen im Steine wiedergegeben. Farrenkräuter und Epheu und eine ganz besonders schöne, großblätterige Staude wachsen an ihr empor. Am linken Ende öffnet sie sich in einer stattlichen Gartenpforte, deren Pfosten eine kleine Überdachung tragen, die in Höhe und Breite ein gutes Pendant zu dem Steinwürfel rechter Hand bildet. Hinter der Bretterwand, bis in Brusthöhe von ihr verdeckt, werden die jüdischen Häscher sichtbar. Sie ziehen von rechts heran - wieder hat man ganz den Eindruck der Bühne - und haben beim Anblick des Heilands zum Teil Halt gemacht, um ihre Waffen in Bereitschaft zu setzen und mit fragender Gebärde teils einander, teils ihr Opfer anzuschauen. Offenbar ist es ihnen wenig wohl zu Mut dem frommen Beter gegenüber, der in seiner inbrünstigen Andacht sie gar nicht bemerkt; vortrefflich hat der Künstler durch diesen Zug die feige Heimtücke des ganzen Überfalls zum Ausdruck gebracht.

Durch die weit aufgestoßene Gartenpforte, deren altertümliches Schloß- und Riegelwerk bis ins Kleinste getreu wiedergegeben ist, drängen bereits die Schergen ein: noch einen Augenblick, und die verräterische That vollzieht sich. Allen voran schleicht Judas in den Garten; mit der Rechten hält er den unvermeidlichen Geldbeutel, die linke Hand zieht das lange Gewand etwas hoch, so daß die zierlich wie zum Tanz gesetzten Füße sichtbar werden. Das leise Heranschleichen des Verräters wird dadurch, freilich ein wenig unbeholfen, angedeutet. Judas ist, und gewiß nicht ohne Absicht, auffallend klein und unansehnlich gebildet; gleichwohl hebt er sich von den nachfolgenden Schergen als ein Wesen höherer Gattung ab. Denn während sich uns jene nach Antlitz und Gewandung als echte Kinder des 16. Jahrhunderts darstellen, bemerken wir an Judas und in noch höherem Maße an Jesus und den drei Aposteln eine ideale Gesichtsbildung und eine Art von klassischem Kostüm. Weit und faltig, wie ein Talar, fließt der lange Mantel um die Leiber der Heiligen, die Gesichter aber zeigen über die Natur geformte Züge und ein überreichliches, stilisiertes Lockenhaar.

Ganz anders die Schergen. Wie die Juden zu Jesu Zeiten bekleidet und bewaffnet waren, das wußte im 16. Jahrhundert in Deutschland niemand; ohne Skrupel kostümirte man sie wie die eigenen Zeitgenossen. Dieser Anachronismus, vor dem bekanntlich selbst ein Dürer nicht zurückschreckte, hatte auch für unsern Meister nichts Bedenkliches. Und so entfaltete er in seinen Häschergestalten ein detailirtes Kostümbild seiner Zeit, Da sehen wir neben Platten- und Kettenpanzern gesteppte Lederwämse und offene Leibröcke, neben Helmen mit und ohne Visier eine bunte Mannigfaltigkeit von Hüten und Mützen. Ebenso unerhört für Zeitgenossen Jesu sind zu einem guten Teil die Waffen und Geräte, welche die Häscher mit sich führen, Gegen den Strick, welchen der tölpelhafte Mann neben Judas (Malchus?) zur Fesselung bereit hält, ist nichts einzuwenden. Desgleichen hat die Feldflasche, aus der sich der hinterste Mann für das Abenteuer guten Mut trinkt, streng genommen auch für einen Stadtpolizisten aus Jerusalem nichts Auffallendes, so specifisch deutsch sie uns auf den ersten Blick anmutet. Aber drollig macht es sich, wenn einer der Häscher die Kurbel einer Armbrust dreht, ein anderer einen eisernen Streithammer führt und einer der vordersten gar mit einer richtigen Muskete zum Gartenpförtchen hereinstürmt. Auch die geöffnete Handlaterne, die ein würdiger Mann in Beamtentracht über den Gartenzaun hält, zeigt eine Form, wie sie noch heute in deutschen Haushaltungen vorkommt, und ebenso ist der hohe Pechkranzbehälter in der Hand eines anderen Mannes uns aus Sammlungen mittelalterlicher Geräte geläufig.

Doch nicht nur für die Kleider und Waffen, auch für die Physiognomieen der Häscher sind allem Anschein nach unserm Künstler seine eigenen Zeitgenossen Modell gestanden. Daher der geradezu packende Realismus in diesen Gesichtern; ist es uns doch, als wären wir den meisten, nur freilich anders kostümirt, soeben erst im Städtchen begegnet.

Vor ihnen kniet der betende Heiland, den Blick nach oben auf den Engel gerichtet, der mit dem Kelch erscheint (Lukas 22, 41-43).
Hinter dieser langen Reihe von Offenburgern des 16. Jahrhunderts beginnt nun der flache Reliefhintergrund. Er zeigt rundliche Hügel gleich denen, welche die unmittelbare Umgegend Offenburgs bilden. Auf den Hügeln stehen vereinzelte Bäume, ungeschickt und steif wie aus der Nürnberger Tandschachtel. Im Schatten der Bäume sind massive Sitzbänke angebracht, aus soliden, viereckigen Steinbalken bestehend. Auch zu diesen Bänken wird der Künstler die Vorbilder in der Offenburger Gegend gefunden haben, wo noch heute solche massive Subsellien mehrfach in Gebrauch sind. Im Engpaß zwischen zweien der Hügel - wieder ganz wie auf einer Bühne - werden die Köpfe und Hellebarden von einigen weiteren Häschern sichtbar, die sich verspätet haben. Sie kommen aus einem Thore Jerusalems, dessen mittelalterlich geformte Giebeldächer, Thortürme und Mauerzinnen die Hügel überragen. Auch für diesen Teil des Bildes könnte Offenburg selbst dem Künstler manches Motiv geliefert haben. Freilich (...) jene alte Reichsstadt Offenburg, wie sie unserm Meister sich darstellte, eingefaßt von einer wehrhaften, zinnenbekrönten Mauer und einem reichen Kranz stattlicher Thortürme. Vielleicht ist es doch mehr als ein bloßer Zufall, daß zwischen dem größten der Jerusalemer Thore und dem Offenburger Stadtwappen eine frappante Ähnlichkeit besteht.

Sehr geschickt und fast unmerklich vollzieht sich endlich der Übergang von diesem Flachrelief zum bloß gemalten Hintergrund. Man sieht ein Brückenthor und eine steinerne, vierbogige Brücke, auf den Wellen des Flusses einige Kähne, am Ufer aber drei Landsknechte mit Hellebarden und Morgensternen, die sich eben anschicken, ihren Kameraden zum Garten nachzueilen. Der fernere Hintergrund zeigt eine hügelige Landschaft am Flusse; eine der Höhen ist durch zwei Kreuze als Golgatha gekennzeichnet."(5)

Wie diese Untersuchung, ihrem Titel und ihrer Absicht gemäß, des weiteren verdeutlicht, wurde der Ölberg in seiner Zeit vorgeprägt vom Passionsdrama (und zum anderen, um es gleich zu sagen, von der Mystik - ein doppelter Ursprung, entsprechend dem der Pietà und sonstiger Andachtsbilder(6). Insbesondere das Offenburger Exemplar "ist bis in alle Einzelheiten hinein geschildert mit aller naturalistischen Einläßlichkeit, eine richtige monumentale Bühnenszene aus dem geistlichen Schauspiel"(7).

Welch letzteres auch genau durch Naturalismus, diesen Stilzug der gesamten damaligen Kunst, sich auszeichnete: sah doch eine Bühnenanweisung zur Ölbergszene vor, "daß der Maler Christus anstreichen soll, um den blutigen Schweiß anschaulich zu machen"(8); ein Stilzug, der oft genug  in die Nähe burlesker Derbheit führte und als solche speziell in den Häscherfiguren zum Ausdruck kam. So etwa, dies aus dem nächstliegenden Freiburger Spiel, wenn Judas das Blutgeld vorgezählt wurde; woraus dann, sofern wieder einmal schlechte Münze in Umlauf war, eine handfeste Prügelei sich zu entwickeln pflegte(9). Nicht anders Malchus, nachdem Petrus (der ja auf dem Offenburger Ölberg gerade zum Schwert greift) ihm das Ohr abgeschlagen hat:

"O we, dz ie ich wardt geporen!
Secht, dz recht ohr hab ich verlohren.
Von dem ich großen schmertzen han:
Der glatskopf hat mir’s gethon." (10)


Vorab freilich ist darauf hinzuweisen, daß diese Rüpel, auch die zum Bildwerk versteinerten, hinsichtlich ihrer Wirkung und Deutung ein Rätsel aufgeben: sind es "die biederen Handwerker, die hier, kriegerisch aufgeputzt und doch so unendlich harmlos, an uns vorbeimarschiren"(11), oder nicht vielmehr "in ihrer abschreckenden Häßlichkeit und Gewöhnlichkeit scharf charakterisierte Gestalten"(12) Davon wird noch zu reden sein. - Gleichwohl war das Passionsdrama auch sehr zarter und inniger Töne fähig; wofür die Trostworte des Engels aus der Ölbergszene des Donaueschinger oder Villinger Spiels den Beweis antreten mögen:

"Sün, bis stet in dinem liden,
wann ich wil alzit by dir bliben
vnd stercken dich in diner not:
du must erlösen mit dinem tod
die verlornen durch Adam vnd Eua val:
durch dich sy werdent erlöset all!
dar vmb gib dinen willen dar in,
wann, sün, es mag nit anders sin!"(13)


Solche Einfühlung deutet aber bereits auf den zweiten Ursprung der Plastik.

Denn zum anderen, so wurde gesagt, fußte der Ölberg auf mystischer Religiosität, die er umgekehrt auch wieder ausbreiten half; am liebsten nämlich betrachtete der Mystiker die Passion Jesu in ihren Stationen, und deren bildhafte Darstellung stand an Anfang und Ende seiner Kontemplation. Ölberg, Schmerzensmann, Marienklage, Heiliges Grab, der Kreuzweg als Ganzes gewannen ihre dem Passionsspiel entlehnte Form in dieser Zeit: zu Andachtsbildern erstarrte Einzelszenen des mitzufühlenden Leidens, wobei (um die Schlüsselwörter zu zitieren) eben die compassio münden sollte in die unio mystica mit dem, der da litt. Vor allem der franziskanische Theologe Bonaventura, dessen Ordensbrüder schon 1280 nach Offenburg gekommen waren, entfaltete die Passionsmystik zu populärer Wirksamkeit; seine vielgelesenen Schriften, besonders "Der Lebensbaum"(14) und "Der mystische Weinstock oder Traktat von dem Leiden des Herrn"(15), verweilen denn auch gern im Garten Gethsemane, bei Jesus und den Jüngern, "dem Verräther und den mit ihm nahenden Blutmenschen, die des Nachts mit Fackeln, Laternen und Waffen kamen"(16). Dies inspirierte dann ebenfalls die neugeschaffenen Ölberggesänge und -andachten, in deren Mittelpunkt das Offenburger Bildwerk zumal am Gründonnerstag oft gestanden haben mag; außerdem die bei solcher Gelegenheit fällige Bußpredigt (obgleich die andernorts erwähnte Freikanzel hier wohl nicht fest vorgesehen war); ansonsten diente die Figurengruppe dem privaten, in sie und in sich versunkenen Gebet. Volkstümlichkeit aber zeichnete den Ölberg wie die vor ihm verrichtete Andacht aus; was diese von der hohen Liturgie ebenso unterschied wie jenen von der hohen Kunst etwa der Epitaphien und Reliquiare. Ihrer traditionellen Strenge, auch Formelhaftigkeit wären am ehesten die Figuren Jesu und der Jünger zuzurechnen, wohingegen Individualität und Modernität des Meisters lediglich in der Gestaltung des Beiwerks und Hintergrunds sich ausweisen durften(17)> - der Rahmen und nicht das Zentrum der Szene ist zu beachten.

Im Rückblick auf den Ölberg und seinen Ursprung wird jener Stilzug nochmals deutlich, dem hier ein besonderes Interesse gelten soll, und den die Hegelsche Ästhetik, ausgehend gerade auch vom spätmittelalterlichen Passionsspiel, als das "Geltendmachen der eigenen Zeitbildung"(18) definiert (und kritisiert) hat, als den Versuch, "die objektive Gestalt der Vergangenheit ganz aufzuheben und die Erscheinungsweise der Gegenwart allein an die Stelle zu setzen". Die lebensgroße, detailgetreue Offenburger Plastik möchte ja, wie zu erinnern, möglichst naturalistisch sein - aber keineswegs in einem historischen Sinne: mit der gesamten Bühne und Staffage, von der kleinen Flora und Fauna bis zum Landschaftshintergrund, soll die zeitliche wie örtliche Distanz zum Geschehen vergessen gemacht und es selber vergegenwärtigt werden. Es geschieht hier und jetzt, und ohne aufzufallen hätte der Betrachter mitten dazwischen treten können; ohne weiteres zumal zwischen die Kriegsknechte, die, Landsleute und Zeitgenossen, anders als Jesus und seine Begleiter das Kostüm des deutschen Spätmittelalters tragen und, wie im Passionsspiel, gebildet sind "ganz mit der Gemeinheit unserer Zeit". Kein Zweifel, daß davon eine starke Wirkung ausging auf das betrachtende Volk, das "um so andächtiger dabei ist, je mehr in dieser unmittelbaren eigenen Gegenwärtigkeit des Äußerlichen das Innere der religiösen Vorstellung ihm lebendiger wird". Die Deutung indessen steht nun an einem Scheideweg: vor der Frage nach der Identifikation des Betrachters.

Wenn dieser nämlich, wie das besonders zum Passionsspiel Gesagte es nahelegt, in den Häschern sich zwar karikiert fand, doch wiedererkannte, sie zumindest als seinesgleichen erkannte, dann blieb ihm nur noch eins zu denken übrig: Jesus, Jesu Sache leidet an uns und unter uns, und wir sind es selber, die leiden machen. Daß die Leiden des Erlösers die Taten der Menschen entgelten, auch der erst nach ihm kommenden, wäre als ein alter Glaubenssatz hier in ein einziges, Verursachende und Ausführende gleichsetzendes Bild gebannt. (So hat auch noch 1925 Lovis Corinth seinen "Ecce Homo", eins jener alten Motive, zwischen einen mittelalterlichen Ritter und einen ganz modernen Arzt(19) gestellt.)

Andererseits: wenn der Betrachter, im Einklang mit dem mystisch-asketischen Denken seiner Zeit, die compassio als mitleidende Identifikation vollzog und derart nun in Jesus sich hineinversetzte, dann rückten die Häscher in ein durchaus negatives Licht. Dann erschienen sie, die den zeitgenössischen Kriegsknechten so sehr gleichenden, ungemildert als Vertreter einer schlechten Obrigkeit, die dem Gerechten und der gerechten Sache mit Verrat und Gewalt den Todesstoß versetzt. Solche Parallelen dürften in einer rebellischen Zeit wie der hier gemeinten (und der Offenburger Ölberg datiert vom ersten Jahr des großen Bauernkriegs) vielleicht nicht unbemerkt geblieben sein; hier schienen, ganz aktuell und ohne jedes entrückende Zeit- oder Lokalkolorit, die Machthaber in ihren häßlichen und hassenswerten Bütteln decouvriert, war der biblische Häscher im Landsknecht auferstanden, und hinter der Szene folglich der Hohepriester Kaiphas im Bischof, der Landverweser Pilatus im Fürsten(20). Noch deutlicher wurde das Donaueschinger Passionsspiel, wenn es die Häscher als geharnischte Ritter unterm Banner vorführte und auch sonst mit einer Vielfalt widerwärtiger Charakterzüge ausstattete(21). Sie waren - wie auch der treubrüchig zum Agenten der Herrschenden gewordene Judas(22) - hier und jetzt gegenwärtig, und so gegenwärtig war die Passion dem Volk, das ihrer daher unablässig gedachte: als einer Präfiguration seines eigenen Leidens,

1.) Die spärliche Literatur zum Thema wird in den Fußnoten dieses Aufsatzes wohl vollständig angeführt (wobei der Ölberg des Barock hier außer Betracht bleibt).
- Allgemeines:
P. Keppler, Die Darstellung des Heilands am Oelberg. In: Archiv für christliche Kunst 7/1884, S.13 - 15;
Karl Künstle, Ikonographie der christlichen Kunst Bd. I. Freiburg 1928, S. 425 - 427;
Louis Réau, Iconographie de l’art chrétien Bd. II, 2. Paris 1957, S. 430 f.;
Lexikon für Theologie und Kirche Bd. 7. Freiburg 1962, Sp. 1139 f.;
Gertrud Schiller, Ikonographie der christlichen Kunst Bd. 2. Gütersloh 1968, S. 58 - 61;
Engelbert Kirschbaum (Hrsg.), Lexikon der christlichen Ikonographie Bd. 3. Rom - Freiburg - Basel - Wien 1971, Sp. 342 - 349.
Außerdem liegen über den zerstörten Speyerer Ölberg einige ältere Arbeiten vor.  
2.) Eine vollständige Aufzählung der einschlägigen Denkmäler scheint ebenfalls nicht zu existieren; und wo sie einmal versucht wurde (Heinrich Otte, Handbuch der kirchlichen Kunst-Archäolegie des deutschen Mittelalters Bd. 1. 4. Aufl. Leipzig 1868, S. 254), ist der reichhaltige badische und elsässische Raum arg vernachlässigt.  
3.) Aus dem Empfehlungsschreiben des Schlettstädter Meister- und Ratskollegiums (27. 7. 1520) für den Bildhauer Paul Windeck, der sich mehrfach um diesen (freilich nie vergebenen) Auftrag bewarb. - Zit. nach: Hans Rott, Oberrheinische Künstler der Spätgotik und Frührenaissance. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins NF 43 (1930), S. 39 - 106; hier S. 79 (Anm. 1); vgl. auch S. 84 (Anm. 2).  
4.) Dem unbestrittenen Rang dieses Werks ist sein schlechter derzeitiger Zustand, samt Gitterzaun und näherer Umgebung, allerdings nicht angemessen. "Seine pflegliche Betreuung (...) bedeutet für die Nachfahren eine nicht geringe Verpflichtung." So hieß es, angesichis des fortschreitenden Zerfalls, schon vor einem knappen Vierteljahrhundert, ohne daß das Mahnen viel genutzt hätte (H. Ginter, Der alte Ölberg von Offenburg. In: Freiburger Katholisches Kirchenblatt 13/1952, S. 200 f.; hier S. 201). - Der zulerzt zitierte Text ist zugleich der einzige monographische über dieses Kunstwerk, allenfalls abgesehen von: F. J. Mone, Notizen zur Kunstgeschichte. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 19 (1866), S. 296 - 308; bes. S. 300 f. (= 6. Der Ölberg zu Offenburg. 1524).  
5.) Fritz Baumgarten, Ölberg und Osterspiel im südwestlichen Deutschland. In: Zeitschrift für bildende Kunst NF VIII. jahrg. (1896/97), S. 1 - 7 und S. 28 - 34; hier S. 1 - 4. Die Schreibweise wurde der heutigen weitgehend angeglichen. - Auf die auch dort angestellten Vergleiche und die Versuche, den Künstler namhaft zu machen, soll hier nicht näher eingegangen werden.  
6.) Vgl. Johannes Werner, Marienklage. In: Die Ortenau 52 (1972), S. 46 - 49.  
7.) Joseph Sauer, Die Kunst in der Ortenau. Mit Anmerkungen von H. Ginter und M. Hesselbacher. In: Otto Kähni/Alfons Staedele (Hrsg.), Die Ortenau in Wort und Bild. 2. Aufl. Offenburg 1960, S. 321 - 421; hier S. 357; Abb. S. 416 (Tafel 3).  
8.) Hans Heinrich Borcherdt, Das europäische Theater im Mittelalter und in der Renaissance. 2. Aufl. Reinbek bei Hamburg 1969, S. 35 (insges. vgl. S. 20 - 39).  
9.) Vgl. Baumgarten, a. a. O. S. 30.  
10.) Ebda.  
11.) Ebda. S. 34.  
12.) Max Wingenroth, Die Kunstdenkmäler des Kreises Offenburg (= Die Kunstdenkmäler des Großherzogtums Baden Bd. 7). Tübingen 1908, S. 494 (Abb. gegenüber S. 492).  
13.) Eduard Hartl (Hrsg.), Das Drama des Mittelalters. Passionsspiele II (= Das Donaueschinger Pàssionsspiel). Leipzig 1942, S. 171 f. (V. 2034 - 2041).  
14.) 2. Aufl. Freiburg 1888 (bes. "Jesus betend zur Erde gebeugt"; S. 29 f.).  
15.) In: B., Mystisch-ascetische Schriften 1. Teil. Überer. u. hrsg. von Siegfried Johannes Hamburger. München 1923, S. 33 - 105 (bes. Kap. 19, "Von der zweiten Blutvergiesung"; S. 92 - 94); vgl. auch: Ursula Weymann, Die Seusesche Mystik und ihre Wirkung auf die bildende Kunst. Berlin 1938, S. 56 f. - Für den barocken Ölberg dürfte dem Kapuziner Martin von Cochem, der die Mystik wiederbelebte und fortsetzte, eine ähnliche Rolle zugekomnen sein.  
16.) Bonaventura, Lebensbaum S. 30.  
17.) Vgl. Baumgarten a. a. O. S. 6 (genauso entwickelten sich Landschaft und Stilleben als künstlerisch Neues innerhalb des religiösen Tafelbilds, um sich schließlich in Form eigenständiger Darstellungen von diesem zu emanzipieren). Wie sehr die Gruppe der Häscher sich hier schon verselbständigt und vom historischen Geschehen gelöst hat, zeigt ihre Ausrüstung mit Waffen, die gar nicht zu ihm passen; denn wozu sollte wohl der Pechkranz dienen? Auf sie, die Häscher, hat nun das Interesse sich verlagert - aus noch zu erlävternden Gründen.  
18.) Alle Zitate dieses Abchsniets nach: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik. Hrsg. von Friedrich Bassenge. Mit einer Einführung von Georg Lukacs. Bd. 1.2. Aufl. Berlin und Weimar/Frankfurt am Main o. J., S. 261.  
19.) "in dem man den Chefarzt einer psychiatrischen Klinik vermuten könnte, der die Symptome des Patienten dem Auditorium erklärt": Hans H. Hofstätter, Malerei und Graphik der Gegenwart. Baden-Baden 1969, S. 97 (Abb. S. 99).  
20.) Ähnliche Bedeutungen finden sich in gleichzeitiger Malerei, so bei zwei offenen Parteigängern der Bauernsache: vgl. Walter Karl Zülch, Grünewald. Mathis Neithart genannt Gothart. Leipzig 1952; und Wilhelm Fraenger, Jörg Ratgeb. Ein Maler und Märtyrer aus dem Bauernkrieg. Dresden 1972.  
21.) Dazu Hartl, a. a. O. S. 73 f. (Einleitung); vg]. auch die Rolle der Ritter in einem schwäbischen Fastnachtsspiel und in einer neueren dramatischen Verarbeitung dieses Motivs: Friedrich Wolf, Der arme Konrad. Schauspiel aus dem deutschen Bauernkrieg 1514. In: F. W., Zwei Dramen aus dem Bauernkrieg. Berlin 1959, S. 7 - 89; hier S. 85 bzw. S. 48 f. - Auch etwa der Straßburger und der Speyerer Ölberg haben die Häscher ritterlich eingekleidet; und ein berühmtes Druckwerk vom Ende des 15. Jahrhunderts, entstanden in Ulm (das damals einen überaus kunstvollen Ölberg besaß), zeigt in einem seiner Holzschnitte die gängige Bildformel der Gartenszene und im nächsten als den, der Jesus von hinten (!) die Schlinge um den Hals legt, einen Ritter in der Rüstung seiner Zeit (Neudruck: Geistliche Auslegung des Lebens Jesu Christi. Eine Holzschnittfolge des 15. Jahrhunderts. Leipzig 1955, S. 34 f.).  
22.) Als solchen hat beispielsweise Herzog Ulrich von Württemberg denjenigen bezeichnet, der ihm Jörg Ratgeb heimtückisch ans Messer lieferte (Fraenger, a.a.O. S. 139).  

Linker Hand sehen wir im tiefsten Schlafe hingestreckt Jakobus Die Häscher ziehen von rechts heran und haben beim Anblick des Heilands zum Teil Halt gemacht, um ihre Waffen in Bereitschaft zu setzen Hinter der Bretterwand, bis in Brusthöhe von ihr verdeckt, werden die jüdischen Häscher sichtbar Das lockige Haupt erhebt Christus nach oben, einem kleinen Engelbilde zu, das mit Kelch und Kreuz von der Höhe eines Steinwürfels herniederschwebt Rechts in der Ecke, dem Jakobus linker Hand entsprechend, kauert Petrus Johannes - Das bartlose, von Locken umrahmte Haupt hat er in die Linke gestützt, die Augen sind im Halbschlummer geschlossen

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