Der Vogt vom Mühlstein - Heinrich Hansjakob


Die Erzählung "Der Vogt auf Mühlstein” vom badischen Heimatdichter Heinrich Hansjakob aus dem Jahr 1892 ist eine tragische Liebesgeschichte. Hauptfigur ist Magdalene, die Tochter des Vogt von Mühlstein.

Es ist das Jahr 1774. Der Vogt hat die schönste Tochter im ganzen Kloster- und Reichsgebiet im Harmersbacher Tal. Sie singt wie eine Nachtigall und verliebt sich in die Zweitstimme des Öler Joken Hans, Sohn eines Bauern. Von dem Duett vor dem Landvolk wird selbst das kühlste Herz bewegt. Im Herbst reitet Ulrich von Hermeshof, ein angesehener reicher Freier siegessicher auf den Mühlstein hinauf und hält beim Vogt um die Hand seiner Tochter an. Der Vater ist einverstanden, aber Magdalene flüchtet aus Furcht vor dem reichen Freier zu ihrer Taufpatin und vertraut sich ihr an. Aber weil man bei der Heirat auf dem Land nach finanzieller Sicherheit trachtet, rät sie ihr nachzugeben.

Im Januar 1785 läuten die Kirchenglocken zur Hochzeit. Magdalene ist blass und niedergeschlagen von ihrer Traurigkeit und dem Liebesschmerz, denn ihr Herz gehört immer noch dem Hans. Plötzlich ertönt fröhlicher Gesang beim Hochzeitsmahl. Es ist der Hans mit dem alten Sängerbunde. Magdalene setzt sich neben ihn und singt mit – und zwar so wunderschön wie noch nie. In derselben Nacht verschwindet er, fort aus seiner Heimat.

Zwei Monate später herrscht immer noch Trauer auf dem Hermeshof. Sie ist nicht sein Weib und wird es nie sein. Auf Rat des Vaters schlägt Ulrich sie, damit sie gescheit werde. Doch nichts ändert sich und er bleibt ein unglücklicher, schwer heimgesuchter Mann, der bereut sein Weib zu schlagen. Hart bleibt nur der Vater, der sie eines Mittags mit Prügel überrascht. Die Unglückliche gerät in heftiges Delirieren, aus dem sie nach Wochen erwacht um zu sterben. Am 15. März 1785 wird Magdalene im Tal zu Grabe getragen.

Ende des 18. Jahrhunderts, am fünfzehnten Jahrestag des Begräbnisses von Magdalene, verunglückt der Vater durch einen Sturz im dichten Walde. Hans ist ledig geblieben und erfährt von seinen Landsleuten vom Schicksal seiner verstorbenen Geliebten. Er stirbt mit 82 Jahren.

Spannend und tragisch zugleich ist man entsetzt über das Ende der jungen Liebe. (Text: Sylvia Vollert auf heimat-erlebnis.de)


Heinrich Hansjakob - Der Vogt auf Mühlstein - 9

Es war am Begräbnistag der Magdalene, am 15. März des Jahres 1800. Der Vogt war alt geworden, ein guter Siebziger, und hatte Hof und Vogtei seinem Jüngsten, dem Symphorian, übergeben. Er selbst wohnte im Libdinghus, das er sich vor Jahren neben dem Hof errichtet.

Der Winter war lange und hart gewesen auf den Höhen des Kinzigtales und der Vogt ungeduldig geworden auf seiner Ofenbank.

Endlich war das Frühjahr gekommen und der Schnee auf der Haldeneck und auf der Flacken gewichen. Die Sonne schien warm an die kleinen Fenster in des Alten Leibgedingstüble. Drum wollte er den ersten schönen Tag benutzen, um seinen Sohn, den Hansjörg, zu besuchen, der im Nordracher Tal drüben, im Bärhag, ein kleines Gütle hatte, und dem er, als er zum Neujahranwünschen auf Mühlstein gewesen war, versprochen, mit dem ersten Frühling hinabzukommen zum Besuch.

Es war, wie gesagt, der fünfzehnte Jahrestag des Begräbnisses der Magdalene. Der Vater wollte im Bärhag übernachten, da der Weg hin und zurück in einem Tag für sein Alter zu beschwerlich gewesen wäre.

Die Sonne schaute prächtig warm auf die Höhe, über die der alte Vogt am Nachmittag hinschritt, immer noch ein stattlicher Bauersmann. Bald ging es durch den Wald bergab, dem Stollengrund zu. Je tiefer er aber in den Wald kam, um so mehr fand sich noch vergletscherter Schnee, und der alte Mann hatte schlimm zu gehen.

Im dichtesten Walde, da, wo der Hans und die Magdalene zum letzten Male allein sich gesprochen, war auch der Schnee am eisigsten und hier stürzte der Greis und blieb, am Rückgrat verletzt, hilflos liegen.

Unweit davon, drunten im Dobel, lag der Stollenhof; aber vergeblich rief und jammerte der Vogt den Tag über und in die Nacht hinein. Kein Mensch hörte ihn. Die Raben und Eulen allein gaben düsteres Echo auf seine Klagerufe. Es muß eine furchtbare Todesnacht und eine furchtbare Todesqual für den alten Mann gewesen sein.

Wo Hans und Magdalene voll tiefsten Herzwehes ihrer Liebe Zukunft in kalter Herbstnacht begraben mußten, im Stollengrund, im dunkeln Tannenwald, da mußte in kalter Frühlingsnacht der harte Vater eines schrecklichen Todes sterben.

Über dem Stollengrund drüben, am Waldrand östlich vom Stollenhof, liegt ein einsames Taglöhnerhaus, das damals der "Waldhans" besaß. Sein Geißenhirt trieb am Morgen des 16. März in aller Frühe seine Ziegen durch den Stollenwald der Flacken zu, damit sie Brombeerblätter suchten; denn dem Waldhans war 's Futter ausgegangen.

Der Geißbub fand im Walde einen toten Mann und eilte zurück, seinen Meister zu holen. Der kam und erkannte den alten Vogt von Mühlstein. In der Nacht schon hatte er geglaubt, vom Wald her rufen und klagen zu hören, aber in der Ferne gemeint, es wären Rufe von Käuzchen, und war wieder eingeschlafen.

Erschreckt eilte er Mühlstein zu und berichtete, was geschehen. Der Symphorian sattelte ein Roß, ging mit dem Waldhans in den Wald zurück, lud den toten Vater aufs Pferd und führte ihn heim.

Zwei Tage darauf haben die Schottenhöfer und Lindacher ihren alten Vogt auch "unter den Eichen" begraben, und der Abt Bernhard sandte den Oberschaffner ScheffelGroßvater des Dichters Viktor v. Scheffel. und den Großkellner Pater Johann Baptist, um dem alten treuen Klostervogt, der so unglücklich ums Leben gekommen, die letzte Ehre zu erweisen. –

Einundneunzig Jahre später, an einem hellen, sonnigen, aber rauhen Frühlingstag, hab' ich die Todesstätte des Vogts im Stollenwald aufgesucht.

Sein Urenkel, Michael Erdrich, der Hofbauer in der Buchen, war mein Führer. Ich war über Gengenbach von der Kornebene herab ins Nordracher Tal gestiegen.

Nach einer stärkenden Rast auf dem Rautschhof ging's wieder bergauf der waldigen Bergwand zu, in deren Mitte der Stollengrund liegt.

Wie bei des Vogts Todesgang lag auch jetzt an vielen Stellen im dichtesten Wald noch Schnee. Sein Urenkel bog hinter dem Stollenhof vom Waldweg ab und führte mich an der steilsten Stelle aufwärts in die dunkeln Tannen. In wenigen Minuten standen wir an einem bemoosten, steinernen Bildstock. "Hier", sprach mein Begleiter, "ist der Vogt tot gefunden worden, und da ist sein Bildstock."

Ich machte den Stein vom Moos frei und las: "An dieser Stelle ist der geweste Vogt Anton Muser von Mühlstein, Vogt von den Schottenhöfen, in der Nacht vom 15. auf den 16. März 1800 verfroren. Dieser Stein wurde errichtet von Christian Muser, in der Fabrik Nordrach Glasmeister und Steinhauer, sein Enkel."

Sein Urenkel aber, der Michael, hatte indes sein Haupt entblößt und betete für die Seelenruhe seines Urgroßvaters, und ich folgte seinem schönen Beispiel. –

Vom Hans hatte man seit jenem Tage, da der Klosterknecht ihn mit den Werbern zum Tore von Offenburg hinauswandern gesehen, nichts mehr gehört.

Es standen junge Burschen aus allen benachbarten Tälern bei kaiserlichen Regimentern. Öfters während des Jahres gingen Rekruten ab und kamen gediente Soldaten zurück. Aber keiner der letzteren wußte etwas vom Öler-Hans.

Da rückte im Jahre 1792 der kaiserliche General Wurmser gegen die französische Rheinarmee ins Elsaß ein. Es wurden Schanzen aufgeworfen und die Bauern aus dem Breisgau und Kinzigtal zu Tausenden dazu kommandiert. Fast täglich sah man in den Jahren 1792 und 1793 Scharen junger Bauern aus dem Kinzigtal, mit Schaufeln und Picken bewaffnet, gen Kehl ziehen – zum Schanzen.

Im Herbst 1793 lagen die Kaiserlichen bei Hagenau. Dahin kamen auch Schanzer aus dem Kinzigtal, aus den Kloster- und Reichsgebieten um Zell; unter ihnen befand sich Öler-Jok der Jüngere, der Bruder des Hans.

Der Jok war ledig geblieben und hatte als der Jüngste sein Vorrecht auf den Hof dem anderen Bruder, dem Hansmichel, abgetreten. Das Schicksal des Hans hatte ihn vielleicht abgeschreckt vom HeiratenEr handelte später mit Holz, kam in den Napoleonischen Kriegen um sein schönes, erworbenes Vermögen und starb am 12. Februar 1843, 88 Jahre alt, als Gemeinde-Armer.. Als lediger Mann übernahm er für seinen verheirateten Bruder die Kriegsfronen und ging mit den Schanzern.

Diese wurden der Ordnung halber und ihrer großen Zahl wegen von Soldaten überwacht.

Eines Tages erschien bei den Arbeitern aus dem Kinzigtal ein Zug Kroaten unter Führung eines Korporals, um Dienst zu tun bei den Schanzern.

Als der Öler-Jok den Korporal, der einen mächtigen Schnurrbart trug, ansah, sagte er zu seinen Mitschanzern, jüngeren Bauernknechten aus dem Nordracher Tal: "Wenn unser Hans noch lebt, so ist es der Korporal!"

Dieser, dessen Regiment erst vor einigen Tagen auf dem Kriegsschauplatz eingerückt war, erkannte die schanzenden Bauern an ihrer Tracht als seine Landsleute.

"Das sind ja Nordracher", sprach er zu dem ihm zunächst arbeitenden Bauer. Jetzt warf der Jok, der weiter unten arbeitete und die Worte gehört hatte, die Schaufel weg, ging auf den Kroatenkorporal zu, streckte ihm die Hand entgegen und sagte: "Und du bist unser Hans!"

Und so war es. Die innere Freude, nach so vielen Jahren Landsleute aus der Heimat zu sehen, hatte den Hans überwältigt. Er hatte sich mit seiner Anrede: "Das sind Nordracher" dem Jok vollends verraten.

Am Abend saßen beide Brüder im Feldlager und erzählten sich alles, was seit jener Winternacht, da der Hans davongegangen, sich ereignet. Die erste Frage des Kroatenkorporals war gewesen: "Leben VaterDer alte Öler-Jok starb erst 1808, 82 Jahre alt. und Mutter noch?" und die zweite: "Wie geht es auf dem Hermeshof?"

Und als der Jok ihm auf diese zweite Frage erzählte, daß die Magdalene schon über acht Jahre unter dem Boden liege, daß sie nur acht Wochen verheiratet gewesen, wie und warum sie mißhandelt worden und gestorben sei – da rannen dem Korporal die hellen Tränen in seinen langen Kroatenbart.

Er hatte genug gehört, und was er gehört, konnte ihn nicht bestimmen, dem Rat des Bruders Jok zu folgen, nach dem Kriege wieder heimzukommen, wo es doch schöner sei als in der fremden Welt draußen.

Die Brüder kamen noch einige Tage in jeder freien Stunde zusammen, aber von der Heimat durfte der Jok nichts mehr erzählen. Der Hans berichtete ihm von seinen Garnisonen und was er alles gesehen in der Fremde.

Die Schanzen, die den allenfallsigen Rückzug der Kaiserlichen decken sollten, waren fertig. Die kriegerischen Operationen sollten beginnen. Die Bauern wurden heimgeschickt. Die Brüder nahmen Abschied.

General Wurmser schickte sich zum Angriff über Hagenau hinaus, den "Weißenburger Linien" zu, hinter denen die Franzosen standen.

Kaum waren die Bauern fort, als der Korporal sich bei seinem Hauptmann meldete und um einen achtzehnstündigen Urlaub bat. "Urlaub vor dem Feind?" schrie der Offizier. "Er ist mir ein schöner Soldat, Öler. Schäm' Er sich!"

"Halten's zu Gnaden", erwiderte der auch in der Sprache zum Österreicher gewordene Nordracher, "ich steh' jetzt acht Jahre beim Regiment und hab' nie einen Urlaub gehabt. Aber jetzt möcht' ich halt nur noch einmal z' Haus."

"Ich weiß", erwiderte der Offizier, "daß Er stets ein tüchtiger Soldat war; aber daß Er jetzt vor dem Feind Urlaub will, das begreife ich nicht. Haben die Bauern aus der Heimat Ihm Heimweh gebracht?"

"Herr Hauptmann, ich will es Ew. Gnaden sagen, warum ich z' Haus möcht', aber ich bitt' schön, mich nicht auszulachen. Es tät' mir weh."

"Sag Er's nur heraus. Was Besonderes muß es schon sein, daß Er mit Gewalt in Urlaub will."

Und nun erzählte der Hans in schlichten Worten die Geschichte seiner Liebe zu Vogts Magdalene mit allen Einzelheiten, die wir kennen, bis zum Abend seiner nächtlichen Abreise.

Er erzählte ferner, wie er von seinem Bruder erfahren, was die Magdalene seinetwegen gelitten habe und wie sie gestorben sei, und wie er nun nur noch einen Wunsch habe, auf ihrem Grab sie zu besuchen und dann als braver Soldat auf dem Schlachtfeld zu sterben und ihr nachzufolgen in die Ewigkeit.

Der Hauptmann, ein alter Haudegen, der von der Pike auf gedient und sonst keine Anlage für Gemütsbewegung mehr hatte, war tief gerührt vom Schicksal des Korporals und seiner Geliebten.

"Wieviel Stunden braucht Er hin und zurück?" fragte der alte Schnauzbart.

"In achtzehn Stunden wollt' ich's fertigbringen", antwortete der Korporal.

"Gut, ich will dem Obristen Meldung machen und ihm alles erzählen. Es wird ihn auch freuen, daß der Korporal Öler von meiner Kompagnie ein so treuer, guter Kerl ist und keinen Wunsch mehr hat, als ein teures Grab zu sehen und dann als braver Soldat zu sterben."

Am Abend brachte ihm der Hauptmann den gewünschten Urlaub, von morgens vier Uhr bis abends zehn Uhr, und vom Obristen noch einen Maria-Theresia-Taler auf die Reise. Der Obrist wolle, so fügte der Offizier bei, den Mann nach seiner Rückkehr auch sehen.

Ehe es tagte am folgenden Oktobermorgen, ging der Korporal bei Neufreistett über den Rhein und eilte Offenburg und dem Kinzigtal zu. –

Der alte Totengräber von Zell wollte an diesem Morgen noch vor Mittag ein Grab fertigmachen. Die Mittagsstunde überraschte ihn aber, ehe er ganz zu Ende war. Er stand eben, auf seine Schaufel gelehnt, an dem ausgehobenen Grabe und betete barhäuptig den Englischen Gruß; denn auf der Pfarrkirche läutete es zwölf Uhr. Da trat hastig ein kaiserlicher Soldat in den stillen Ort, kam auf den Totengräber zu und fragte: "Wo ist das Grab der Hermesbürin, die des Vogts Tochter auf Mühlstein war?"

"Es wird jetzt so acht Jahre sein, daß ich ihr das Grab gemacht habe", antwortete der Alte, mit einem befremdenden Blick den Krieger anschauend. "'s war eine große Leich', und so lang ich Totengräber bin, hab' ich noch nie so viel Leute weinen sehen. Ihr werdet wissen warum? Seid Ihr doch wohl ein Sohn vom alten Vogt?"

"Ich weiß warum, bin aber kein Bruder der Toten", antwortete der Soldat. "Aber zeigt mir das Grab, ich habe Eile!"

"Dort hinten in der Ecke", sprach der Totengräber, mit der Hand hinzeigend, "seht Ihr ein eisernes Kreuz glänzen. Es ist ein Meisterwerk vom Schmied am oberen Brunnen; der Vogt hat's machen und vom Klostermaler in Gengenbach vergolden lassen. Unter jenem Kreuz liegt die junge Hermesbürin. Der Name steht auch dabei. Die alte Marianne, die Magd vom Mühlstein, hat erst vor vierzehn Tagen Winter-Astern aufs Grab gesetzt." –

"Ich weiß nicht", meinte der Totengräber, als der Korporal fortgeeilt war und er selbst seine Arbeit wieder aufgenommen hatte, "am End' ist das der Schatz der Hermesbürin, um dessentwillen, wie die Leute sagen, sie so viel hat mitmachen und sterben müssen. Ich will doch sehen, ob er auch betet am Grabe."

Der Alte schlich etwas vorwärts, bis er in dem Wald von Kreuzen eine Reihe gefunden hatte, durch die er von ferne zum vergoldeten Kreuz hinübersehen konnte. Dort kniete der Soldat vor dem Grabe, betete und trocknete sich die Tränen ab.

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