Nordrach "Badisches Davos"


Nordrach als ehemaliger Lungenkurort von Hans-Georg Kluckert - die Ortenau 1992 S. 250 ff.

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Dr. Otto Walther, Privat-Archiv

Die Wiege des Lungenkurortes Nordrach stand im abgelegenen hinteren Nordrachtal, in der Kolonie, wie der Ortsteil heute noch heißt. Der Name Kolonie weist dabei auf die Ansiedlung hin, die vom Benediktinerkloster Gengenbach schon im Mittelalter mit Höhenhöfen besiedelt wurde(1). Um den Holzreichtum im Quellgebiet des Nordrachbaches und im Mooswald besser zu nutzen, gründeten die Äbte 1695 eine Glashütte (später "Fabrik" genannt) und etwa 1750 eine Farbfabrik zur Herstellung der von den Färbereien so begehrten Blaufarbe(2). Im Zuge der napoleonischen Säkularisation ging aller Kirchen- und Klosterbesitz an den Staat, Damit verfiel auch diese Fabrik, die mehrmals verlegt und ab 1776 im Talgebiet angesiedelt worden war. Die Bevölkerung in der Kolonie verarmte und wanderte teilweise aus(3). Die Fabrikgebäude standen ungenutzt herum, bis sich der Arzt Dr. Walther 1889 dafür interessierte.

Der praktische Arzt Dr. Otto Walther kam durch Zufall in diese Gegend. In Leipzig hatte der gebürtige Sachse Medizin studiert und dabei seine spätere Frau Hope Adams kennengelernt, eine Engländerin, die später als Sozialistin bekannt wurde. Auch Dr. Walther war früh zum Sozialismus gekommen und gehörte zum Freundeskreis von Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Friedrich Engels. Nach dem Staatsexamen war der 25-jährige Dr. Walther zunächst Arzt im deutschen Hospital in London, dann siedelte er mit seiner Frau nach Frankfurt um, wo beide als Ärzte praktizierten. Ende 1886 sollten im Zuge des Bismarck’schen Sozialistengesetzes alle bekannten Sozialisten aus Frankfurt ausgewiesen werden. Dr. Walther kam dem aber zuvor, zumal seine Frau an Lungentuberkulose erkrankte, und wich mit Hilfe des sozialistischen Reichstagsabgeordneten Adolf Geck aus Offenburg auf das nahegelegene Brandeck aus.

Die großherzoglich-badischen Behörden in Offenburg waren damals übrigens wenig erfreut über diesen Zuzug aus Frankfurt. Dr. Walther landete dann auch prompt - für kurze Zeit - im Gefängnis - mit der Beschuldigung, die verbotene Zeitschrift "Sozialdemokrat" auf Brandeck hergestellt zu haben. Die Absicht, Brandeck zu einem Sanatorium für Lungenkranke umzubauen, scheiterte am Wasser - es gab zu wenige Quellen. Über ein halbes Jahr suchte Dr. Walther nach einem neuen Standort - und stieß dabei auf die in Nordrach-Fabrik zum Verkauf anstehende Wirtschaft "Zum Anker" mit einer Sägemühle. Der windgeschützte, nebelfreie, sonnendurchflutete und wasserreiche Talkessel schien für sein Vorhaben geeignet.

Dr. Walther erwarb ab 1887 nach und nach weitere Anwesen, so z.B. das Herrenhaus, in dem damals die Herren vom Kloster - also Mönche - gewohnt hatten, zwei geschlossene Schwarzwaldhöfe und 1889 die ehemaligen Fabrikgebäude, Stallungen und eine weitere Sägemühle. Bei der Finanzierung der Kosten für die umfangreichen Grundstückskäufe half ihm übrigens ein englischer Verleger(4). Im Ortsetter der Kolonie, im Lichtersgrund und im Klausenbachgebiet(5), gehörten zum Dr. Walther’schen Liegenschaftsbesitz 1840 Ar Grundstücksfläche und 40 Gebäude (davon 24 aus Holz, zum Teil mit Stroh gedeckt). Der Neubauwert lag damals bei 266.860 Mark. (Zum Vergleich: die Verpflegungskosten in der LVA lagen damals bei 4 Mark pro Tag.)

Für die Errichtung einer Lungenheilstätte benötigt man nicht nur Grundstücke und Gebäude, sondern auch die Genehmigung durch das großherzogliche Bezirksamt Offenburg, das am 12.9.1889 das Nordracher Rathaus anschrieb, ob Bedenken gegen die Nutzung der Gebäude für solche Zwecke vorlägen. Das scheint nicht der Fall gewesen zu sein (im Archiv findet man lediglich den Vermerk: "Erledigt!"). Zur Bezirksratssitzung mit Ortstermin am 06.11.1889 war die Gemeinde zwar eingeladen, erachtete die Entsendung eines Vertreters aber für unnötig(6). Am 08.03.1890 wurde Dr. Walther eine "Drahtleitung zum Zweck der Errichtung einer elektrischen Telefon- und Beleuchtungsanlage"(7) über den Gemeindeweg beim "Anker"-Wirtshaus gestattet. Am 11.07.1890 gestatte der Gemeinderat eine Wasserleitung(8) vom Gemeindewald in Dr. Walthers Haus.

So kam es 1890 zur Eröffnung der Lungenheilstätte Nordrach-Kolonie. Weil Dr. Walthers Patienten nicht in einem Krankenhaus, sondern in einzelnen Häusern leben sollten, sind damals viele alte Häuser stehengeblieben, andere sind hauptsächlich aus Holz neu erbaut worden. Bekannt sind auch von vielen Ansichtskarten die eben schon erwähnten Gebäude Herrenhaus und Gasthaus "Anker", aber auch der "Bergfried", das frühere Hauptgebäude mit großem vorgelagertem Treibhaus, das Doktorhaus, die Villa, das Waldhaus, das Rosenhaus, die Bibliothek, das Sonnenhaus, ein aus Schweden importiertes Blockhaus mit elektrischer Heizung, das Direktorenhaus und das Glaserkirchlein sowie schöne Parks, Gartenanlagen und besonders der Schwanenteich, die alle zusammen das Gelände der Heilstätte zu einem "Dr. Walther’schen Paradies" werden ließen.
 
Dr. Walther'sches Paradies
Dr. Walther'sches Paradies


Dr. Walthers Sanatorium, Nordrach-Kolonie
Dr. Walthers Sanatorium, Nordrach-Kolonie

Heute stehen davon übrigens noch das Herrenhaus, direkt an der Talstraße, das Glaserkirchlein und das Direktorenhaus am Berg, in dem der heutige Verwaltungsleiter wohnt. Der Bergfried ist leider nicht mehr vorhanden; er sollte 1968 abgerissen werden, brannte aber einige Tage vorher bis auf die Grundmauern nieder.

Dr. Walther hatte sein eigenes Heilsystem und recht ungewöhnliche Heilmethoden. Er war ein strikter Gegner der Liegekuren, weil er meinte, das Herz gewöhne sich zu sehr an das Nichtstun und sei dann später den eigentlichen Anstrengungen des Berufsalltags nicht mehr genügend gewachsen. Außerdem würden sich die Patienten zu sehr ihr gegenseitiges Schicksal klagen und sich so zu intensiv mit ihrer Krankheit beschäftigen. Deshalb ließ Dr. Walther Wanderwege mit verschiedenen Steigungssraden anlegen, Holzbänke aufstellen und Wanderkarten an die Patienten verteilen. Er hatte offensichtlich gute Heilerfolge. Seine Patienten kamen aus ganz Europa, Engländer waren besonders stark vertreten, und alle fühlten sich wohl, denn er kümmerte sich um alles und um alle. Er baute Kraftwerke zur Stromerzeugung, ließ neue Gebäude errichten und intensivierte die Selbstversorgung mit landwirtschaftlichen Produkten. Ein Großteil der Zimmer war damals schon mit Duschen ausgestattet. Der Doktor nahm die Mahlzeiten inmitten seiner bis zu 63 Patienten ein und teilte jedem aus, was er essen mußte. Und wehe, wenn gegen die Ordnung verstoßen wurde, dann mußte heimgefahren werden, so z. B. auch ein schottischer Geistlicher, der trotz strikten Alkoholverbots sich Whisky schicken ließ und unter Büchern versteckte. Dr. Walther fühlte sich eben persönlich für die Genesung verantwortlich und verlangte daher von seinen Patienten absolute Einhaltung und Ordnung(9).

Dem Beispiel Dr. Walthers folgend, wurden noch vor der Jahrhundertwende weitere Kuranstalten - diese allerdings im Dorf - gegründet, die ebenfalls Lungenkranke aufnahmen. Das 1875 mit Erweiterungsbau für Gästezimmer eröffnete Gasthaus "Linde" errichtete 1893 bereits eine Dependance, ein Kurhaus für Tbc-kranke Gäste, und 1898 eine weitere, das sogenannte Doktorhaus(10). Auch der "Stuben"-Wirt stellte seine Gasträume für Patienten zur Verfügung, so daß die Wirte der "Linde" und der "Stube" gleichzeitig Gastwirt und Kurhausbesitzer - allerdings in jeweils getrennten Häusern - waren. 

Der damals in Nordrach - im heutigen Postamt - praktizierende Arzt Dr. Karl Hettinger kaufte am 30.09.1896 von Schneidermeister Joseph Herrmann im Gewann Schanzbach 4 Ar Hofreite nebst 2-stöckigem Wohnhaus(11), ließ es abreißen und auf demselben Platz, dem Areal des heutigen St. Georg-Krankenhauses, sein Privat-Sanatorium errichten, das er allerdings schon 1905 an die Rothschild’sche Stiftung veräußerte.

In dieser Zeit bis zum Ersten Weltkrieg war der Gästeandrang zeitweise so stark, daß Lungenkranke auch in den benachbarten Bauernhäusern untergebracht waren. Die gut zahlenden Gäste kamen überwiegend aus England und Frankreich, und zwar vor allem von Oktober bis April. Damals hatte Nordrach eine nebelfreie Lage. Patienten, für die Davos zu hoch lag, kamen deshalb gerne nach Nordrach.

Daß diese große Zahl von lungenkranken Patienten in Nordrach nicht überall gern gesehen wurde, ersieht man z. B. in einem Schreiben vom Großherzoglichen Bezirksamt Offenburg vom 18.03.1903(12), in welchem der Nordracher Gemeinderat gefragt wird, ob die Aufnahme von Lungenkranken in vorgeschrittenem Tbc-Stadium in Privatwohnungen der Gemeinde nicht eine Gefahr für die Logie-Familie und den Ruf des Kurorts darstelle. Der Gemeinderat meinte damals dazu, daß das nicht der Fall sei, da solche Kranke kaum da seien und im übrigen ständig unter Aufsicht eines Kurarztes stehen würden. In Gemeinderatsprotokollen findet sich eine Erörterung dieser Angelegenheit allerdings nicht, so daß die Antwort vom damaligen Bürgermeister evtl. auch gleich selbst gegeben sein konnte.

Diese Schreiben vom Bezirksamt gehen bis zum Ersten Weltkrieg unvermindert weiter. Dazu ein weiteres Beispiel: Am 15.05.1911 werden die Gastwirte Willmann (Stubenwirt) und Spitzmüller (Lindenwirt) folgendermaßen angeschrieben: "Von seiten des Großherzoglichen Bezirksarztes werden wir erneut ersucht, darauf hinzuweisen, daß die Aufnahme von Lungenkranken in Gasthäusern, ohne daß eine Absonderung stattfindet, wegen der Ansteckungsgefahr unstatthaft erscheint. Wir machen Sie hierauf mit dem Anfügen aufmerksam, daß wir, falls gleichwohl eine Aufnahme solcher Kranker in Ihrem Gasthof stattfinden sollte, uns veranlaßt sehen würden, die Unterbringung der Kranken der Landesversicherungsanstalt in Nordrach zu untersagen. Ein Überhandnehmen der Lungenkranken dortselbst würde übrigens auch den Zuzug anderer Kurgäste und Sommerfrischler in erheblichem Maße beeinträchtigen und es dürfte deshalb in Ihrem eigenen Interesse gelegen sein, von der Aufnahme weiterer Lungenkranker abzusehen".(13)

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Kurhotel "Stube", Nordrach

Die damalige Kurordnung in den Häusern "Linde" und "Stube" war sehr streng. Eine gute, fettreiche Ernährung war für Tbc-Kranke wichtig. Um 8 Uhr war Frühstück, 10 Uhr zweites Frühstück, 12 Uhr Mittagessen mit Suppe, zwei Gängen und Nachtisch, 16 Uhr Nachmittagskaffee und 19 Uhr Abendessen. Liegekuren dauerten morgens zwei bis drei Stunden, mittags zwei Stunden, nachmittags zwei Stunden und im Sommer abends nochmals eineinhalb Stunden. (Also anders als bei Dr. Walther!) Bei starker Kälte wurden die Patienten in Decken, später in Schlafsäcken und Decken eingewickelt. Kaltes Abwaschen des Oberkörpers war morgens und abends Pflicht, außerdem wenigstens leichte Spaziergänge(14).

Der erste Sanatoriumsbetreiber, der sein Haus weiterverkaufte, war Dr. Hettinger. Er hatte sich mit dem Bau finanziell übernommen und gab sein Privatsanatorium schon 1905 an die Rothschild’sche Stiftung ab, die hier eine Lungenheilstätte für jüdische Frauen einrichtete. In dem Sanatorium wurden mittellose jüdische Mädchen und Frauen, meist arme Dienstmädchen aus ganz Deutschland, aber auch aus Belgien, England und anderen europäischen Ländern kostenlos behandelt. Das Haus soll von der Rothschild-Stiftung von England aus verwaltet worden sein. In der Heilstätte hielten sich meist ungefähr 30 Patientinnen auf. Die kranken Jüdinnen blieben von vier Wochen bis zu einem halben Jahr.

Verstorbene Jüdinnen, die keine Angehörigen mehr hatten, wurden auf dem Nordracher Judenfriedhof beigesetzt, ein Friedhof, der erst in dieser Zeit auf Wunsch der Juden im Untertal errichtet wurde, auch deshalb, weil sie andere Friedhofssitten praktizieren. Baronin von Rothschild kaufte damals vom Nordracher Leo Maile ein Grundstück außerhalb des Ortskerns und ließ diesen Friedhof anlegen. Der älteste Grabstein trägt die Jahreszahl 1907.

Im Sanatorium Rothschild gab es keine Standesunterschiede, es ging familiär zu. Der Chefarzt, Dr. Wehl, aß gemeinsam mit den Patientinnen im Speisesaal am langen Tisch. In dem jüdischen Haus wurde auf koschere Nahrungszubereitung Wert gelest und nur Rindfleisch von geschächteten Tieren verzehrt. Auch das jüdische Brauchtum wurde gepflest; der Sabbat, das Laubhüttenfest und andere jüdische Feste wurden gefeiert. Das Verhältnis der Juden zur Dorfbevölkerung wird allgemein als gut bezeichnet, denn die Rothschild-Stiftung wirkte im Ort sehr wohltätig und spendenfreudig. Für Feuerwehreinsätze stellte sie z. B. einen Lastwagen samt Fahrer zur Verfügung, und als das Armenhaus 1931 abbrannte, wurden die verzweifelten Bewohner von der Rothschild-Stiftung mit Möbeln und Hausrat versorgt(15).

Doch nicht nur Dr. Heitinger verkaufte sein Privatsanatortum; auch Kurortbegründer Dr. Walther folgte seinem Beispiel. Als engagierte Arztpersönlichkeit hatte er seine eigenen Kräfte schnell verbraucht, im übrigen plagten ihn auch öfters finanzielle Sorgen, denn so mancher Patient aus unteren Bevölkerungsschichten war bei ihm umsonst versorgt worden.

Dr. Hettingers Sanatorium im Dorf
Dr. Hettingers Sanatorium im Dorf

Ehemalige Patienten schlugen ihm zwar vor, mit englischem und amerikanischem Kapital eine Gesellschaft zu gründen; doch bei diesem Geschäft wollte der überzeugte Sozialist nicht gern mitmachen; sein Werk sollte insbesondere den minderbemittelten Volksschichten zugutekommen. Vergeblich bot er seine Heilanstalt zum Spottpreis von 200.000,- Mark der Stadt Offenburg an. Doch die Landesversicherungsanstalt (= LVA) Baden zeigte Interesse; die Tuberkulose hatte mittlerweile so überhand genommen, daß die LVA neben ihren bisherigen Lungenheilstätten Friedrichs- und Luisenheim in Malzburg-Maizell am Blauen im Kandertal eine weitere Kuranstalt brauchte. So kam ihr das Angebot von Dr. Walther gerade recht, und für 300.000,- Mark kaufte die LVA am 12.09.1908 das gesamte Sanatorium.

In den damals geheim gehaltenen, später aber von der LVA veröffentlichten Erläuterungen für die Ausschußsitzung vom 20.07.1908 über den Ankauf des Sanatoriums Nordrach-Kolonie heißt es u. a.: "Trotz der Vermehrung der Betten in Friedrichsheim und Luisenheim ist die Beseitigung der Warteliste bzw. die Abkürzung der Wartezeit (auf einen Platz in einem Lungensanatorium) nicht zu ermöglichen, wenn nicht weitere Betten beschafft werden. Auch die Räumlichkeiten in den Wirtshäusern von Nordrach-Dorf stellen sich nur als Notbehelf dar. Die Lage Nordrach-Kolonie ist mitten im Lande sehr günstig. Allerdings ist der Landweg von der Eisenbahnstation Biberach 15,8 km lang, allein der Weg ist gut, beinahe eben und kann mit Automobilwagen in einer halben Stunde zurückgelegt werden, ein noch guter Automobilwagen ist im Kaufpreis eingeschlossen, ebenso 3 Pferde mit Chaisen.

Die Lage von Nordrach-Kolonie ist vorzüglich, weites Tal, überall Staats- und Gemeindewaldungen, Bergschutz gegen Ost, Nord und West, offen gegen Süden, viel Wasser, große Wasserkraft für Licht, Heizung, Wäscherei usw. Die Kolonie ist auch fern von Wirtschaften und fern von Gelegenheiten, gegen die Kurvorschriften zu handeln. Die Gebäude, welche zur Aufnahme von Kranken bestimmt sind, können durchweg als wenig umfangreiche Pavillons bezeichnet werden; sie sind zerstreut in die nicht mit Gesträuch und Bäumen bepflanzten Berghänge eingebaut. Von besonderer Bedeutung ist die gewaltige zur Verfügung stehende Wasserkraft. Die Wasser der zwei hier zusammenmündenden Täler Klausenbach und Glasloch sowie des Lichtergrundes sind in eiserne Röhren weit oben gefaßt und auf drei Turbinen geleitet. Die Wasserkraft schwankt zwischen 70 und 150 Pferdestärken, je nach der Jahreszeit. Sie wird benützt zum Betrieb von drei Dynamomaschinen, zur Wäscherei und zur Eisbereitung. Elektrisch ist überall die Beleuchtung, in vielen Zimmern die Heizung usw. Schließlich verfügt das Sanatorium über ein sehr zahlreiches und hochgelohntes Personal, zum Beispiel verdient der Assistenzarzt 10.000 Mark, Verwalter und Frau 15.000 Mark. Wir werden die Maschinisten (3.000 Mark mit Wohnung), den Kutscher, einige Dienstmädchen und dergleichen übernehmen, wenn wir sie bedürfen und mit ihnen einig werden. Krankenschwestern oder Wärter sind bis jetzt keine vorhanden. Wir hoffen, daß wir Wirtschafts- und Krankenschwestern vom Roten Kreuz bzw. vom bad. Frauenverein erhalten können. Wärter werden - wie in Friedrichsheim - aus den Reihen der Patienten zu gewinnen gesucht werden(16).

Die insgesamt 107 Betten des bisherigen Dr. Waltherschen Sanatoriums wurden bereits im Oktober 1908 mit lungenkranken männlichen Versicherten belegt. Die vier Gebäude Bergfried, Sonnenhaus, Herrenhaus und Rosenhaus wurden zur Aufnahme von Kranken verwendet, die anderen Gebäude, vor allem die Gastwirtschaft zum "Anker" und das sog. Doktorhaus, dienten wirtschaftlichen und ärztlichen Zwecken.

Da es wegen Dr. Walthers Heilmethoden an einer Liegegelegenheit, an Bädern und an gemeinsamen Aufenthaltsräumen für die Kranken fehlte, wurde bereits 1909 auf dem Anstaltsgelände unterhalb des Bergfrieds ein dreistöckiger Liegehallenbau für insgesamt 103.000 Mark erstellt.

Kurhaus, Detailansicht aus "Kurhausprospekt" 1928
Kurhaus, Detailansicht aus "Kurhausprospekt" 1928

Von weiteren Neubauten ist die biologische Kläranlage für die Abwasserleitung und ein neues Trinkwasserteservoir aus dem Jahre 1911 interessant, beide zusammen kosteten damals 50.000 Mark.

Im Bereich Nordrach-Dorf gab es in der Zeit vor dem 1. Weltkrieg außer dem Rotschild’schen Sanatorium die beiden Gastwirtschaften "Stube" und "Linde" mit Dependancen. Das Hotel "Linde" nahm 1912 größere Umbauarbeiten vor und richtete einen eigenen Omnibusbetrieb nach Zell ein, der zunächst mit Pferden durchgeführt wurde.

In den Jahren 1913 bis 1915 entschloß sich Lindenwirt Lorenz Spitzmüller zum Neubau eines Sanatoriums, etwas ruhiger und abseits gelegen im Winkelwald-Gelände. Da Lorenz Spitzmüller im Frühjahr 1915 starb und seine Söhne Erwin und Ludwig in englischer Internierung bzw. französischer Gefangenschaft waren, wurde das Sanatorium im Sommer 1915 von der erst 24-jährigen Hilda Spitzmüller, der Mutter des späteren Kurhausbetreibers Kurt Spitzmüller eröffnet und geführt. Erst nach dem 1. Weltkrieg fand dann eine Erbteilung statt, bei der der spätere Bürgermeister Ludwig Spitzmüller das Kurhotel "Linde" und sein Bruder Erwin das Sanatorium erhielten(17).

In einem gemeinsamen Prospekt von Kurhaus und Sanatorium aus den Jahren 1914 / 15 liest man u. a.: "Das Sanatorium hat 20 Zimmer, davon sind 6 mit Balkon, 2 andere mit Loggien versehen. Im Erdgeschoß befinden sich die Liegehallen, der Speisesaal, auf der Nordseite die Küche und eine Dunkelkammer für Amateurfotografen, im 1. und 2. Stockwerk die Zimmer, welche mit Warm- und Kaltwasserleiung an den Waschtischen, mit Zentralheizung und elektrischem Licht ausgestattet sind.

Bade- und Duscheinrichtungen sind in jedem Stock vorhanden. Von allen Gängen kann man über Brücken in den Wald gelangen.

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Sanatorium im Winkelwald, Privat-Archiv

Das Kurhaus Nordrach, das seit Jahren besteht, wird weitergeführt und ist derselben Leitung wie das Sanatorium unterstellt. Dasselbe ist auch mit Bad, Dusche, elektrischem Licht, Wasserleitung und Zentralheizung versehen. Zur Durchführung der Freiluftkur dient die von Wiesen und Bäumen umgebene Liegehalle. Die Zahl der Patienten ist beschränkt, und so entspricht das Zusammenleben mehr dem einer Familienpension. Die Behandlung ist eine streng individuelle bei beständiger persönlicher Überwachung durch den Arzt. Es ist hierzu vor allem unerläßlich, daß der Arzt mit den Kranken in steter Berührung bleibt und ihre Lebensweise teilt. Dementsprechend besucht er sie täglich zweimal in ihren Zimmern, nimmt die Mahlzeiten gemeinschaftlich mit ihnen ein und leitet sie dabei zur vernünftigen Nahrungsaufnahme an".

Der Pensionspreis betrug nach diesem Prospekt damals im Kurhaus 5,50 bis 7 Mark - je nach Wahl der Zimmer, im Sanatorium für Zimmer ohne Balkon 8 Mark, für Zimmer mit Balkon 10 Mark, für Eckzimmer mit Balkon oder Loggia 12 Mark. Für dieses Geld erhielt der Kurgast damals die gesamte Verpflegung mit Wohnung und ärztlicher Behandlung.

Interessant sind vielleicht auch noch die Preise für die Wagen: Ein Einspänner von Biberach nach Nordrach kostete 5 Mark, ein Zweispänner 8 Mark. Nachmittags konnte auch ein Omnibus von Zell nach Nordrach benutzt werden - zum Fahrpreis von 50 Pf., das Gepäck wurde dabei allerdings besonders berechnet(18).

Während des Krieges waren bis 1918 Unteroffiziere in der "Linde" untergebracht. Auch die LVA-Heilstätte in der Kolonie wurde schon ab 25.10.1914 mit Genesung suchenden Soldaten belegt; zum Jahresende 1914 war sie bereits mit 108 Soldaten voll belegt. Schwierig wurde hier die Versorgung der Patienten im Kriegswinter 1916 / 17. Um wenigstens die Versorgung mit Milch sicherzustellen, erwarb die LVA am 27.10.1917 zum Kaufpreis von 24.000 Mark ein oberhalb von Nordrach-Dorf gelegenes landwirtschaftliches Anwesen, den Huberhof - mit insgesamt 15 ha und 77 Ar Wiesen, Äckern und Wald sowie acht Milchkühen.

In der wirtschaftlich schwierigen Zeit nach dem 1. Weltkrieg entschloß sich der LVA-Gesamtvorstand 1922 (ein Jahr vor der Inflation!) als Ersatz für die vielfach ungenügenden Bauten der Heilstätte, einen Hauptbau sowie einen besonderen Wirtschaftsbau mit Kesselhaus, Fernheizung, Maschinen- und Akkumulatorenraum, Wäscherei mit Zubehör, Garage, Werkstätten und Desinfektionsraum - mit einem Gesamtaufwand von rund 10 Millionen Mark - zu erstellen. Auch eine vollautomatische Telefonanlage und ein Personenaufzug mit Druckknopfsteuerung gehörten dazu. Während des Inflationsjahres 1923 mußten die Arbeiten mehrmals eingestellt werden, so zogen sich die Bauarbeiten lange hin, dazu kamen auch Planänderungen, so daß die Neubauten erst im Januar 1927 eingeweiht und ihrer Bestimmung übergeben werden konnten.
 
LVA - Heilstättengebäude in der Kolonie, aus "Nachrichtenblatt der LVA Badens", Heft 10 / 1979, Beilage
LVA - Heilstättengebäude in der Kolonie, aus "Nachrichtenblatt der LVA Badens", Heft 10 / 1979, Beilage

Zwischendurch war 1924, nachdem der Stand der Bauarbeiten dies gestattete, ein Notbetrieb mit 70 Betten in den alten Gebäuden Bergfried, Rosenhaus und im alten Schulhaus eingerichtet worden. In dieser Zeit waren weibliche Lungenkranke und Kinder hier untergebracht zu dem ermäßigten Verpflegungssatz von täglich 4 Mark für Erwachsene und 3 Mark für Kinder.

In ihrer neuen Gestalt stellte die Heilstätte Nordrach-Kolonie eine "mustergültige neuzeitliche Anstalt" dar, mit "nach den neuesten Grundsätzen erstellten Röntgenanlagen für Diagnostik und Therapie".

Die Zahl der zur Verfügung stehenden Betten betrug nun 102 im Neubau für tuberkulöse Männer und Frauen, 39 im Bergfried für tuberkulöse Kinder und 25 im Rosenhaus für tuberkulös gefährdete Kinder; außerdem stand das sog. alte Schulhaus mit zehn Betten als Aufnahme- und Isolierstation zur Verfügung, so daß die Gesamtzahl der vorhandenen Betten 176 betrug(19).

In allen Nordracher Heilanstalten wurden die tuberkulös Kranken nach ähnlichen Richtlinien behandelt: Grundlage aller Tuberkulosetherapien war die hygienisch diätetische Behandlung, damit der Körper Abwehrkräfte gegen die Krankheit selbst aufbringen konnte. Zwischen fünf regelmäßigen Mahlzeiten waren Liegekuren und Ausgangszeiten oder Spielzeiten für Kinder in genau festgelegter Ausdehnung vorgeschrieben.

Die ansonsten streng individualisierte Therapie kannte Haut-Reizbehandlungen in Form der Hydrotherapie, kalte Teil- und Ganzabreibung, Duschen und Abspritzungen, Freiluft- und Sonnenkuren, im Sommer unter natürlicher Sonne, im Winter unter Höhensonne und Quarzlicht.

Das Kurhaus Spitzmüller legte in seinen Prospekten immer auch Wert auf die Feststellung, daß nur solche Kranke in der Anstalt Aufnahme finden können, deren Zustand wirklich Aussicht auf Erfolg hat, d.h. nur sog. Leichtlungenkranke, nicht aber Schwerkranke und dauernd Bettlägrige.

Kurhaus, Liegehalle, aus "Kurhausprospekt" 1935
Kurhaus, Liegehalle, aus "Kurhausprospekt" 1935

Das Kurhaus bot 1928 sogar schon "Pauschalkuren" an bei einem Mindestaufenthalt von drei Monaten. Die Kosten betrugen pro Monat 180 Mark im Doppelzimmer und 195 Mark im Einzelzimmer zuzüglich 3 Mark Kurtaxe im Monat. In diesen Preisen war alles enthalten, also Pension, Heizung, Beleuchtung, Bedienung, die gesamte ärztliche Behandlung, Röntgen- und Blutuntersuchungen, Bäder, Bestrahlung mit Höhensonne, Desinfektion und Medikamente.

Abgesehen von diesem Pauschalpreisangebot kostete ein Doppelzimmer pro Tag 6 Mark, ein Einzelzimmer 6,50 Mark. Auch in diesem Preis waren volle Verpflegung und alles eben bereits Erwähnte inbegriffen.

Die Kurtaxe betrug damals pro Tag 10 Pfennig und die Privatauto-Taxe 5,- Mark für die Strecke bis Biberach und 3,- Mark nach Zell(20).

Nachdem das Kurhaus 1926 durch eine große Liegehalle erweitert worden war, wurde 1928 das Hotel "Linde" geschlossen. Seither wird das Gesamtareal nur noch als Kuranstalt geführt, die 1935 drei beieinanderliegende Einzelhäuser mit Zentralheizung, elektrischem Licht und Radio sowie ausgedehnte Garten- und Kuranlagen mit bequemen Spazierwegen anbietet(21).

Kurpark, Privat-Archiv
Kurpark, Privat-Archiv


Umgekehrt entschied sich der "Stubenwirt". Er stellte seinen Gasthof Anfang der 20er-Jahre auf alleinigen Gaststättenbetrieb um. Seitdem gibt es bis heute im Nordrachtal vier Einrichtungen für erkrankte Menschen, damals alle für Lungenkranke, heute keine einzige mehr! 

In den 30er und 40er Jahren hatten alle vier Häuser mit der unruhigen Zeit des Nationalsozialismus und vor allem mit Kriegseinwirkungen zu tun, besonders traf das natürlich das Rothschild’sche Sanatorium für lungenkranke Jüdinnen, das in dieser Zeit(22) eine wechselvolle und unrühmliche Geschichte erlebte.

Elf Wochen nach Hitlers Machtübernahme wandte sich das Bürgermeisteramt am 20.04.33 schon an den damaligen Innenminister mit der Bitte, die Rothschild’sche Stiftung solle nicht geschlossen und ins Ausland verlegt werden, denn die Gemeinde und die gewerbetreibende Bevölkerung wären dadurch hart betroffen, vor allem auch nachdem zu Beginn 1932 ein schwerer Verlust durch die Schließung der Anstalt der LVA entstanden sei. Die Anstalt beschäftige im übrigen außer zwei jüdischen Angestellten auch 16 christliche. In der Tat war die LVA-Lungenheilstätie in der Kolonie wegen der wirtschaftlichen Gesamtsituation und der Finanzlage der LVA Baden seit 01.01.32 außer Betrieb genommen worden, wurde aber am 01.08.35 für erwachsene Kranke beiderlei Geschlechts wieder eröffnet(23).

Nach den nationalsozialistischen "Rassengesetzen" durften Deutsche nicht mehr für Juden arbeiten, so wurde das Personal im Rothschild’schen Sanatorium teilweise von der Gemeinde in Dienst genommen. Im Jahre 1933 wurde die Rothschild’sche Stiftung aufgelöst und das Sanatorium der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland unterstellt. Die Reichskristallnacht überstand die jüdische Heilstätte unbeschadet. Überhaupt verstand es der damalige Bürgermeister Spitzmüller recht lange, dafür zu sorgen, daß das Haus hier in Nordrach in Ruhe gelassen und die Juden im Dorf ordentlich behandelt wurden. Doch der vom Innenminister genehmigten Aufnahme männlicher Patienten in diesem Haus stimmte er nicht zu. Als Gründe nannte er den Gemeinderäten "die Reibereien mit den arischen Gästen und den damit verbundenen Rückgang der arischen Geschäfte und Sanatorien".(24)

In einem Brief an die Reichsvereinigung der Juden vom 13.03.41 schrieb er deswegen: "Wenn auch das Ministerium in Karlsruhe die Sache seinerzeit genehmigt hat, so geschah dies, ohne mich zu hören. Als Leiter der Gemeinde sehe ich mich jedoch genötigt, gegen diesen Entscheid anzukämpfen und warne Sie hiermit nochmals offiziell, männliche Juden nach hier zu verlegen. Falls Sie trotz meiner Warnung Ihren Entschluß durchführen, werde ich kein Mittel unversucht lassen und darauf hinarbeiten, daß nicht nur die männlichen Juden hier verschwinden, sondern daß auch die hier bestehende Jüdische Anstalt aufhört zu existieren." Die Abschrift dieses Briefes ans Landratsamt nach Wolfach führte am 09.08.41 zunächst zu unerwünschten Folgen für den Bürgermeister. Vor Landrat Dr. Wagner, so heißt es im Protokoll, erschien Bürgermeister Spitzmüller, ihm wurde zur Auflage gemacht, daß er jegliche Betätigung in der Angelegenheit zu unterlassen habe und daß er sein Schreiben zurücknehmen und durch ein anderes, in dem eine Richtigstellung enthalten ist, zu ersetzen habe. Gleichzeitig wurde er darauf hingewiesen, daß eine dienststrafrechtliche Verfolgung gegen ihn wegen seiner Eigenmächtigkeit vom Herrn Minister des Innern vorbehalten sei. Am selben Tag schrieb er zwar an die Reichsvereinigung den gewünschten Brief, in dem er feststellte, daß die Anordnung des Ministers für ihn bindend sei, doch vier Tage später bekam der Landrat einen Brief von Bürgermeister Spitzmüller des Inhalts, daß der seinerzeitige Erlaß des Ministers nochmaliger Prüfung unterzogen werden soll. Am selben Tag hatte Spitzmüller auch dem Kreisleiter der NSDAP einen Brief mit Abschriften der Schreiben an den Landrat in Wolfach geschickt - und er hatte Erfolg.

Nur 10 Tage später, am 23.08.41, untersagte das Ministerium auf Wunsch des Reichstatthalters in Baden die Aufnahme männlicher Patienten im Rothschild-Sanatorium. In einem Zeitungsbericht wurde aber nun der Landrat wegen "Humanitätsduselei" schwer getadelt.

Es blieb also weiterhin bei nur Frauen und es blieb - immerhin, wir haben schon 1941! - auch bei einer jüdischen Einrichtung in Nordrach; das änderte sich aber nun bald. Zunächst benötigte der SS-Obersturmbannführer für die Waffen-SS eine eigene Lungenheilanstalt, was er im Schreiben aus Berlin vom 21.08.42 kundtat. Der Bürgermeister antwortete zustimmend: die Belegung der jüdischen Heilstätte könne auf 80 bis 100 Personen erweitert werden, eine Unterbringung im Sanatorium Spitzmüller komme aber nicht in Betracht. Trotzdem wurde nichts daraus, denn am 07.09.42 nahm das SS-Sanitätsamt nach reiflicher Überlegung von der Belegung Abstand.

Am 29.09.42 fuhr die Gestapo vor der Rothschild’schen Lungenheilstätte vor, lud die Insassen auf einen Lastwagen auf und deportierte sie über Darmstadt ins KZ Theresienstadt - zusammen mit dem Anstaltsarzt Dr. Wehl, der selber Jude war. Das Bürgermeisteramt teilte dem Gesundheitsamt Wolfach auf ihre Frage vom 16.10.42, was aus den Räumen der Lungenheilstätte Rothschild geworden sei, mit, daß sämtliche Juden evakuiert worden seien. Man findet außerdem noch die Eintragung, daß Ende 1942 eine Verschleppung der Ärzte, des Personals und der Insassen nach Auschwitz (1944) erfolgt sei. Vom weiteren Schicksal dieser Menschen sei aber nichts bekannt. Aus heutiger Sicht kann man sich dieses Schicksal allerdings sehr wohl vorstellen, denn man weiß, daß Auschwitz ein Vernichtungslager gewesen ist. Jedenfalls haben wohl die wenigsten diese Deportation überlebt.

Die Gebäude dieser Heilstätte hat zunächst die SS in Besitz genommen und zum SS-Mütterheim "Lebensborn" umfunktioniert(25), einem Entbindungsheim, in das die jungen Mütter etwa sechs Wochen vor der Entbindung kamen und das sie etwa acht Wochen nach der Geburt größtenteils wieder verließen. Es gab sogar ein eigenes Standesamt im Haus - mit dem Namen "Standesamt Nordrach II"(26). Der Verwalter im Lebensborn-Heim Schwarzwald war in diesem neuen Standesamtbezirk gleichzeitig Standesbeamter, die Oberschwester seine Stellvertreterin, was vom Minister des Innern am 18.11.42 genehmigt wurde: "Das vom Verein Lebensborn e. V. in München in Nordrach betriebene Mütterentbindungsheim bildet mit Wirkung vom 01.11.42 einen besonderen Standesamtbezirk". Mit Schreiben des Landratsamtes Wolfach vom 05.04.1943 hat dieses Standesamt "Nordrach II" mit dem Zeitpunkt der (französischen) Besatzung aufgehört zu bestehen(27).

Daß Ende des Krieges aber auch weiterhin Lungenkranke in Nordrach behandelt wurden (z. B. im Kurhaus und im Sanatorium) ersehen wir aus einer kreispolizeilichen Vorschrift für die Gemeinde Nordrach vom 26.05.1944, unterschrieben von Landrat Dr. Wagner. Darin heißt es: "Zur Aufnahme ansteckungsfähiger Lungenkranker sind nur Heilanstalten und Krankenhäuser berechtigt. Lungenkranke dürfen während der Kur Nordrach nicht verlassen. Sie müssen besondere Postkurse benutzen oder privates KFZ. Der Besuch von Gasthäusern ist für sie verboten. Spuckern kann verboten werden, sich außerhalb des Sanatoriumgeländes zu bewegen(28).

Als 1945 von der NSDAP der Befehl kam, die jüdischen Gräber oder Friedhöfe zu zerstören oder unkenntlich zu machen, wurden auf dem Nordracher Judenfriedhof zwar einige Grabsteine umgekippt, aber so, daß diese im Juni 1945 unschwer wieder auf die dazugehörenden Sockel zementiert werden konnten.

Das SS-Mütterentbindungsheim bestand bis 15.04.1945, dann wurde es "aus kriegsbedingten Gründen", wie es damals formuliert wurde, geschlossen. Das Haus war nämlich nun von den Alliierten besetzt worden. Während der ersten Zeit der Besetzung beherbergte das Haus Amerikaner. Sie sollen viele Einrichtungsgegenstände beschädigt haben(29).

Am 28.06.1945 teilte Amtsgerichtsrat Eisenmann, Karlsruhe, zuletzt Vertrauensmann der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, mit, daß die ehemalige Rothschild’sche Lungenheilstätte im Eigentum der Reichsvereinigung stehe. Weiterhin teilte er mit, daß der langjährige Anstaltsarzt Dr. Wehl mit jüdischem Personal und Insassen am 29.09.42 von der Gestapo verschleppt worden sei, daß er das Nordracher Grundstück damals samt Inventar an die Gestapo übergeben mußte, die es dem sog. Verein "Lebensborn" in München überlassen habe, daß die rechtmäßige Eigentümerin weder Miete noch Kaufpreis erhalten habe, daß er als Vertreter der jüdischen Interessen in Baden bei den Franzosen Ansprüche geltend machen werde und daß im Sinne der Baronin von Rothschild das Haus als Heim für die dem Terror des sog. Dritten Reiches entgangenen alten, kranken und erholungsbedürftigen Menschen jüdischen Glaubens dienen solle(30).

Doch es kam anders. Zunächst diente das Sanatorium als Lazarett für französische Soldaten, unter ihnen auch viele Marokkaner.

Von Juli 1947 bis Sept. 1948 war in diesem Haus das französische Kinderheim "Pouponniere Francaise", also ein französisches Säuglingsheim, ein Waisenhaus für Kinder "fremder Väter".(31)

Die frz. Militärregierung hat mit Wirkung vom 15.11.49 das Kinderheim aufgelöst. Die restlichen Besatzungskinder kamen später nach Frankreich, manche auch nach Amerika, dort wurden sie dann adoptiert. In dieser Zeit (1949 / 1950) verwaltete das "Landesamt für Kontrollierte Vermögen Baden" Vermögen und Besitz der Rothschild’schen Stiftung.

Von diesem Amt wurde die Rothschild’sche Stiftung in Nordrach dem Nordracher Bürgermeister - damals Jakob Oehler - in Zwangsverwaltung unterstellt, auf Bitte des badischen Ministeriums der Finanzen am 26.05.1950 an Dr. Wachsmann, Baden-Baden, übergeben und dann von Nathan Rosenberger in Freiburg übernommen. Im Zuge der Wiedergutmachung kam es an die rechtmäßigen jüdischen Besitzer zurück. Ein Sohn der Baronin Emma von Rothschild verkaufte die Heilstätte 1952 für 330.000 Mark an Tadeus Zajac, dessen erste Frau polnische Jüdin war, die in der Hitlerzeit im Arbeitslager Zwangsarbeit verrichten mußte.

Tadeus Zajac aus Schömberg bei Calw beantragte schon am 05.04.52 die Erteilung der Konzession zum Betrieb der ehemaligen Rothschild’schen Lungenheilstätte für "nur leicht lungenkranke Patienten, wie im Sanatorium und Kurhaus", wie er extra erwähnte. Am 15. Mai 1952 konnte der Heilstättenbetrieb mit 130 bis 140 Patienten durch Herrn Zajac als Pächter wieder eröffnet werden. Die Konzession zum Betrieb der Lungenheilstätte an Tadeus Zajac vom 21.08.52 wurde am 06.06.53 vom Landratsamt Wolfach zwar wieder zurückgenommen, doch nach einigem Hin und Her haben die Eheleute Zajac durch den Kaufvertrag vom 16.12.53 nicht nur die Grundstücke der Rothschild’schen Stiftung, sondern auch die Konzession erhalten(32)

Nach einer Renovierung wurden nun bis 1969 wieder Tuberkulosekranke im ehemaligen Rothschild-Sanatorium behandelt, die jetzt aber meistens aus Deutschland kamen. So waren nun wieder in allen vier Nordracher Kureinrichtungen Lungenkranke untergebracht. Das Kurhaus unternahm ab 1960 wesentliche Erweiterungs- und Umbaumaßnahmen.

Auch die LVA-Lungenheilstätte in der Kolonie vergrößerte sich nochmals in den Jahren 1964 bis 1967, nachdem sie erst im Sommer 1950 wieder in die LVA-Zuständigkeit gelangt war, von 1946 - 1948 hatten die Franzosen die Gebäude der Heilstätte (Sanatorium "Résistance" genannt) mit lungenkranken französischen Soldaten belegt.

Im Zuge der Um- und Erweiterungsbauten entstanden damals das Personalhaus und der neue Patiententrakt mit Badeabteilung, übrigens an der Stelle, wo sich früher die Hausliegehalle befand. Dieser Patiententrakt wurde nahtlos mit dem Hauptbau verbunden, was bis heute so geblieben ist. Er war damals schon nicht Tbc-spezifisch konzipiert und konnte damit später auch für indikationsmäßig andere Verwendung zugelassen werden(33).

Aufgrund der zurückgehenden Tuberkulose-Erkrankungen wurde aus dem bekannten Lungenkurort Nordrach, der ja in einem Buchtitel(34) sogar als "badisches Davos" bezeichnet worden war, in den 70-er-Jahren ein Luftkurort(35), der Patienten mit anderen Krankheitsbildern aufnahm und betreute.

LVA-Klinik in der Kolonie
LVA-Klinik in der Kolonie

Als erstes erhielt Tadeus Zajac am 21.05.65 die beantragte Genehmigung zur Einrichtung eines Sanatoriums zur Nachbehandlung von Krebskranken in Nordrach. Ab 25.11.65 betrieb er also gleichzeitig ein Sanatorium für Lungenkranke mit 130 Betten und ein Sanatorium für Krebskranke mit ca. 60 Betten; hier wurden allerdings nur krebskranke Frauen behandelt, und das bis 1969(36).

Im Oktober 1970 wurde das Kurhaus ganz umgewidmet; aus der Lungenheilstätte wurde eine Kurklinik für Krebsnachsorge(37). Das Sanatorium Nordrach im Winkelwald, das ab 01.01.1968 von Familie Lehmann übernommen wurde, stellte im November 1973 auf Kurbetrieb für Krebskranke um(38).

Lungenkranke Patienten gab es nun nur noch in der LVA-Heilstätte Kolonie, doch auch hier wurden im Dezember 1975 die letzten Tbc-Patienten entlassen bzw. verlegt. Nach Umbauten und umfangreichen Desinfektionsmaßnahmen wurde es am 15. Juni 1976 als Fachklinik für innere Erkrankungen, Frühheilverfahren und Frühgeriatrie wieder eröffnet(39).

Das heißt, daß seit 1976, also seit immerhin 16 Jahren, kein einziger Lunsenkranker mehr hier im Nordrachtal behandelt wird, daß also die Zeit des Lungenkurorts Nordrach seit 16 Jahren vorbei ist.

Meine umfangreichen Kenntnisse über Nordrach als ehemaligem Lungenkurort verdanke ich zum einen dem Gemeindearchiv, in das mich Kreisarchivar Dr. Dieter Kauß hervorragend eingeführt hat. Zum anderen danke ich Herrn Ehrenbürger Kurt Spitzmüller und Herrn Arnold Merz für die detaillierten Unterlagen und Prospekte vom ehemaligen Kurhaus und auch vom Sanatorium sowie von der früheren LVA-Heilstätte. Auch die Herren Helmut Lehmann, Werner Ludolf, Thaddäus Zajac jun. und die Chefärzte der vier Kureinrichtungen haben mich in meiner Arbeit gut unterstützt.

Anmerkungen

1.) Vgl. H.-G. Kluckert, Nordrach. Geschichte, Menschen und Landschaft des Tales. Zell a. H. 1989, S. 11  
2.) Vgl. Chr. Kirn, Glashüttenbetrieb und Kobaltwerk in Nordrach, in: Ortenau 36, 1956, S. 239 - 248: H.-G. Kluckert, Nordrach S. 12  
3.) Vgl. W. Baumann, Die Auswanderung aus Nordrach und Nordrach-Kolonie im 18. bis 20. Jahrhundert, in: Ortenau 47, 1967, S. 102 - 111; 48, 1968, S. 145 - 162 und 49, 1969 S. 183 - 190: H.-G. Kluckert. Nordrach S. 14  
4.) Vgl. Chr. H. Stöhr, In alten Akten geblättert. 90 Jahre Landesversicherungsanstalt Baden. Karlsruhe 1980, S. 31 - 33.  
5.) Gemeinde-Archiv (= G. A.) Nordrach. Lagebuch Nordrach II (Kolonie) S. 4, 8 und 16  
6.) Belege zu den Daten 1889 im G. A. Nordrach VIII, 4  
7.) G. A. Nordrach. Grundbuch Colonie 1900, Blatt 1  
8.) G. A. Nordrach. Grundbuch Nordrach Bd. XVI, Nr. 121, S. 365 ff.  
9.) Vgl. S. Schülj, Dr. O. Walther. Der Gründer des Sanatoriums Nordrach-Kolonie, in: Ortenau 49, 1969, S. 191 - 194  
10.) Masch. Aufzeichnungen "Kurhaus Nordrach", von K. Spitzmüller, Nordrach  
11.) G. A. Nordrach. Grundbuch Bd. XVII, Nr. 79, 8. 548 ff.  
12.) G. A. Nordrach VIII, 4  
13.) G. A. Nordrach VIII, 4  
14.) Masch. Aufzeichnungen "Kurhaus Nordrach" von K. Spitzmüller  
15.) Vgl. N. Kienzle, Das St. Georgs-Krankenhaus in Nordrach. Bildsteinarbeit Grund-, Haupt- und Realschule Zell a. H. 1989  
16.) Vgl. Landesversicherungsanstalt (= LVA) Baden, Erläuterungen für die Ausschußsitzung vom 20.07.1908. Karlsruhe 1908.  
17.) Masch. Aufzeichnungen "Kurhaus Nordrach" von K. Spitzmüller  
18.) Vgl. gemeinsamer Prospekt von Kurhaus und Sanatorium Nordrach 1914 / 15.  
19.) Vgl. LVA Baden, Denkschrift aus Anlaß der Eröffnung der Ersatz- und Erweiterungsbauten (in Nordrach) am 16.01.1927. Karlsruhe 1927.  
20.) Vgl. Prospekt "Kurhaus Nordrach. Besitzer Ludwig Spitzmüller. Badischer Schwarzwald" 1928  
21.) Vgl. Prospekt "Kurhaus Nordrach. Privatheilanstalt für Lungenkranke. Besitzerin: Hilda Spitzmüller" 1935  
22.) Die im folgenden benannten Belege zur Rothschild’schen Lungenheilanstalt finden sich in G. A. Nordrach VIII, 4 und beruhen auf mündlichen Informationen, die in der (Anm. 15) genannten Arbeit von N. Kienzle verwertet wurden.  
23.) Vgl. LVA Baden, 70 Jahre LVA-Rehabilitation in Nordrach. Beilage der Zeitschrift "Nachrichtenblatt" der LVA Baden 1979, Heft 10, o. S.  
24.) G. A. Nordrach, Niederschriften über die Beratung mit den Gemeinderäten und über die Entschließungen des Bürgermeisters 1935 - 1941, Blatt 49  
25.) Vgl. dazu allgemein: G. Lilienthal, Der "Lebensborn e. V.", Stuttgart 1985  
26.) Die Eintragungen dieses Standesamts II befinden sich - ebenso wie die daraus folgenden Einzelakten - im G. A. Nordrach  
27.) G. A. Nordrach VIII, 4  
28.) G. A. Nordrach VIII, 4  
29.) nach mündlichen Berichten  
30.) G. A. Nordrach VIII, 4  
31.) Vgl. N. Kienzle, Das St. Georgs-Krankenhaus in Nordrach  
32.) G. A. Nordrach VII, 4  
33.) Vgl. LVA Baden, 70 Jahre LVA-Rehabilitation in Nordrach  
34.) F. Hirth, Das badische Davos 1930  
35.) Dieses wurde im Jahre 1981 nach neuer Gesetzeslage für Nordrach bestätigt. Vgl. H.-G. Kluckert, Nordrach S. 39  
36.) Vgl. N. Kienzle, Das St. Georgs-Krankenhaus in Nordrach  
37.) Masch. Aufzeichnungen "Kurhaus Nordrach" von K. Spitzmüller  
38.) Vgl. H.-G. Kluckert, Nordrach S. 42  
39.) Vgl. LVA Baden, 70 Jahre LVA-Rehabilitation in Nordrach  

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