Die Bollenhuttracht - Heinz Schmitt - die Ortenau 1989 - S. 440 ff.
Entwicklung, Pflege, Vermarktung
Wie alle Kulturgüter hat auch unsere Kleidung eine lange Entwicklung durchlaufen und war dabei ständigen Veränderungen unterworfen(1). Das gilt nicht nur für modische Kleidungsweisen, sondern ebensogut für bäuerliche Trachten. Es ist geradezu das Kennzeichen lebendiger Tracht, daß sie auf modische Vorbilder reagiert, Neuerungen aufnimmt und dadurch überhaupt tragbar bleibt. Wo dies nicht mehr erfolgt, wo eine Erstarrung eintritt, ist die Tracht unweigerlich zum Absterben verurteilt und kann bestenfalls, auf einem bestimmten Stand verharrend, noch als Vereins- und Vorführkostüm besichtigt werden.
Jahrhundertelang war die Kleidung der Bauern äußerst einfach, farb- und schmucklos. Zwar setzten sich im Mittelalter der Adel und die Patrizier der reichen Städte deutlich von den Bauern ab, doch lagen die Unterschiede der Bekleidung weniger in den Schnitten als in der Verwendung verschieden wertvoller Materialien. Vom 15. Jahrhundert an gab es Kleiderordnungen, die den Bauern die Verwendung von Seide, Samt, kostbaren Pelzen, Schmuck und sogar von bestimmten Farben untersagten. Doch kümmerten sich die Betroffenen oft nicht darum und versuchten immer wieder, die höheren Stände nachzuahmen. Noch im 18. Jahrhundert waren Kleiderordnungen erlassen worden, die letzte auf später badischem Gebiet 1773 für das Territorium von St. Blasien. Im Zusammenhang mit der Aufklärung und im Gefolge der Französischen Revolution von 1789 mit ihren Ideen von der Gleichheit aller Menschen, die eben auch in der Kleidung zum Ausdruck kommen sollte, waren die Kleiderordnungen gegenstandslos geworden. Von da ab konnten sich die bäuerlichen Trachten völlig ungehindert entfalten. Viele Kleidungsforscher verlegen daher die Entstehung der Volkstrachten im heute verstandenen Sinn an das Ende des 18. Jahrhunderts(2).
In vielen Landschaften ist es allerdings nicht zur Ausbildung eigentlicher Volkstrachten gekommen. Grundsätzlich läßt sich feststellen, daß die Entstehung und Bewahrung von Trachten in erster Linie nicht auf abseitiger Verkehrslage oder gar dem Stammescharakter eines Gebietes beruhen, sondern in der Hauptsache von wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten abhängen. Trachten entwickelten sich vor allem da, wo die Landbevölkerung die benötigten Stoffe selbst herstellte oder aus eigenen Produkten herstellen ließ und wo sie außerdem wohlhabend genug war, um sich teurere Materialien hinzukaufen zu können. Armut war kein Boden, auf dem Trachten gedeihen konnten(3).
Die Entwicklung verlief unterschiedlich. Einerseits wurde das ganze 19. Jahrhundert hindurch von Beobachtern über das Verschwinden der Trachten geklagt. Andererseits wurde von wohlhabenden und selbstbewußten Bauern da und dort eine Prunkentfaltung betrieben, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu ganz extremen Formen steigern konnte, wie wir sie beispielsweise in der Hanauer Schlupfkappe oder dem St. Georgener Riesenschäppel, aber auch im Gutacher Bollenhut vor uns haben.
Entwicklung
Wenn ich hier vom Bollenhut und der Bollenhuttracht spreche, ist damit die Tracht der drei Orte Gutach, Kirnbach und Reichenbach gemeint. Zumeist wird sie als Gutacher Tracht bezeichnet nach dem größten Trachtenort des bis 1810 württembergischen und damit evangelischen Amtes Hornberg. Der berühmte Hut, das Emblem für den Schwarzwald, ist in seiner heute bekannten Ausformung erst einige Jahrzehnte alt. Wir wollen seiner Entwicklung ein wenig nachgehen. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts sind die ersten Strohhüte im Schwarzwald nachweisbar. Sie stehen im Zusammenhang mit der Einführung der Strohflechterei als Hausgewerbe, über deren Ursprünge allerdings nichts Näheres bekannt ist. Im 19. Jahrhundert waren Triberg, Neustadt, Furtwangen, Höchenschwand und Villingen Zentren der Strohflechterei(4). Hier wurden auch, sicherlich durch Modeströmungen beeinflußt, unterschiedliche Hutformen hergestellt, die als Zylinder, breitrandige Hüte oder als der merkwürdige "Schnozhut" der Hotzenwälder in die Frauentrachten des Schwarzwaldes Eingang fanden. Die Hüte standen dabei zumeist als sommerliche Kopfbedeckungen neben den mehr der winterlichen Tracht zugehörigen Hauben, wurden oft aber auch über der Haube getragen, wie es bei der Gutacher Tracht heute noch der Fall ist.
Der Gutacher Hut gehört zu der Gruppe der flachen, breitrandigen Hüte, die im mittleren Schwarzwald weiter verbreitet waren und darüber hinaus auch in der Schweiz und im Elsaß, wohin sie teilweise aus dem Schwarzwald geliefert wurden, nachzuweisen sind. Die Trachtenforscherin Rose Julien spricht geradezu vom "alemannischen Hut"(5).
Um die nähere Verwandtschaft dieses Hutes darzustellen, seien einige Beispiele genannt. Die Strohzylinder waren im 19. Jahrhundert in einem großen Teil des Schwarzwaldes die vorherrschende weibliche Kopfbedeckung. Es gab aber auch die flache, breitrandige Hutform. Diese konnte ohne große Verzierung getragen werden, wie wir auf der Darstellung eines Kirchzartener Hochzeitszuges von 1820 sehen. Nicht viel anders zeigt sich das Schnapphütchen des Hochschwarzwaldes heute noch. Sehr viel bunter präsentiert sich eine Sonntagstracht von 1819 aus dem Kanton Zug.
Schon näher mit dem Bollenhut verwandt ist eine breite Form. Auf sie könnte sich beziehen, was die Reiseschriftstellerin Friederika Brun 1801 aus der Gegend von Lahr über die Kopfbedeckung der Frauen berichtet: "Sie tragen gewaltig große gelbe Strohhüte ganz runde, welche... mit... seidnen Lizzen und Quasten besetzt sind, und die vor Sonne und Regen zugleich schirmen."
In diesem Zusammenhang sei auch an den Schapbacher Frauenhut (Bader 1844) und den Renchtäler Rosenhut erinnert, der sicher am nächsten mit dem Gutacher Bollenhut verwandt, aber schon lange verschwunden ist. Auch der St. Georgener Rosenhut muß hier genannt werden.
Es ist also festzuhalten, daß die Ausgangsform für verschiedene Hutarten die gleiche gewesen ist. Die Gutacher Tracht hat eben ihre eigene Zierform hervorgebracht, die sogenannten Bollen.
Die Entwicklungsgeschichte des Bollenhutes läßt sich anhand von bildlichen Darstellungen seit etwa 1800 gut verfolgen. Seit dieser Zeit wird die Verwendung von Wollrosen als Hutzier nachweisbar.
Die Farben des Zierats, Schwarz oder Rot, haben damals anscheinend noch nicht Verheiratete und Ledige auseinandergehalten. Es muß offen bleiben, ob sich vielleicht so katholische Wolfacherinnen von evangelischen Hornbergerinnen unterschieden haben.
Es ist aber durchaus möglich, daß die Farbwahl in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch frei getroffen werden konnte. Auf einer kolorierten Lithographie von Karl Wilhelm Schurig aus den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts sieht man unter dem Titel "Bauernmädchen aus Schramberg" (gemeint ist Hornberg) sowohl einen roten als auch einen schwarzen Bollenhut(6).
Auf einem Bild von Josef Bader aus der Zeit um 1840 erkennt man, daß die immer noch kleinen Wollrosen jetzt die Kuppe des breiten Hutes bedecken und in vier Reihen zu je zwei Bollen nach hinten laufen(7). Darstellungen der Zeit zwischen 1860 und 1870 von Charles Lallemand(8), Rudolf Gleichauf(9) und Benjamin Vautier(10) zeigen zwar eine gewisse Vergrößerung der Bollen, doch hat sich der Hut immer noch die breite Form der sonst üblichen Schwarzwälder Strohhüte erhalten. Charles Lallemand nennt ihn ein Wunder an gutem Geschmack und findet besonders bemerkenswert, daß die junge Großherzogin Luise, eine preußische Prinzessin, bei ihren Fahrten durch den Schwarzwald den Hut getragen und durch ihr Vorbild die weiblichen Badegäste in Rippoldsau und Wolfach dazu angeregt habe, den Gutacher Hut gleichfalls aufzusetzen(11). Dieser Vorgang machte den Hut tatsächlich zu etwas Besonderem und legte den Grund zu seiner künftigen Berühmtheit.
Von 1880 an erfuhr die Gutacher Tracht immer stärkere Beachtung. In diesem Jahr hatte sich der Maler Wilhelm Hasemann in Gutach niedergelassen. Anlaß dafür war der Auftrag des Verlags Cotta in Stuttgart an Hasemann, Berthold Auerbachs Novelle "Die Frau Professorin" zu illustrieren. Hasemann wollte am Schauplatz des ersten Teils der Erzählung Studien machen, blieb aber schließlich bis zu seinem Tod im Jahre 1913 in Gutach(12). Er wurde zum Schwarzwaldmaler und zum Maler der Gutacher Tracht. Zeitweise hielten sich weitere Maler hier auf, so daß von einer Gutacher Malerkolonie gesprochen werden kann, doch siedelte sich nur Curt Liebich, der Schwager Hasemanns, auf Dauer an.
Die vielfache künstlerische Darstellung machte die Tracht erst recht bekannt und zog immer mehr Gäste aus aller Weit nach Gutach. Sie trug aber auch dazu bei, den Bollenhut zu verändern. Seine Hervorhebung als charakteristischer Bestandteil der Tracht führte zu einer immer stärkeren Betonung des Hutes. Die ursprünglich so bescheidenen Wollrosen wucherten allmählich zur Übergröße und ließen von der Strohunterlage nicht mehr viel sehen. Dadurch wurde der Hut, dessen Strohteil überdies gegipst und geleimt wurde, aber auch schwerer und unbequemer. Diese Entwicklung zu einer hypertrophen Form war schon vor der Jahrhundertwende vollzogen.
So häufig wie Künstler und Trachtenumzüge vermuten ließen, wurde die Tracht allerdings am Ausgang des 19. Jahrhunderts schon nicht mehr getragen. Vor allem der Bollenhut war relativ selten zu sehen. Aus dem ursprünglich leichten, alltäglich zu tragenden Strohhut war ein schweres Prunkstück geworden, das nur noch zu festlichen Gelegenheiten aufgesetzt wurde. Wegen seiner Wetterempfindlichkeit konnte der Hut nicht dem Regen ausgesetzt werden. Die jungen Mädchen verzichteten vielfach ganz darauf, so daß der teurere rote Bollenhut, der gewöhnlich zur Konfirmation angeschafft wurde, noch weniger zu sehen war als der etwas billigere schwarze, der von der Hochzeit an getragen wurde. Dies bestätigt auch Hasemann in einem Brief an den Karlsruher Gewerbeschuldirektor Cathiau vom 5. Oktober 1894(13).
Verschiedentlich wurde versucht, den Bollenhut mit einer christlichen Symbolik in Zusammenhang zu bringen. So sah Professor Curt Liebich in der Form, in der die Bollen angeordnet wurden, das Kreuz mit zwei seitlichen Kreuzstützen. Dies sei allerdings durch die Größe der Bollen jetzt nicht mehr erkennbar(14). Die Trachtengraphik aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts läßt aber erkennen, daß die Ansicht Liebichs nicht zutreffen kann. Ebensowenig wird man sich mit den Auffassungen von Erik Thurnwald, dem früheren Pfarrer von Kirnbach, anfreunden wollen, der die Tracht als typische "Kirchentracht" bezeichnet und ihr eine Symbolik zugrunde legt, die durch historische Zeugnisse nicht zu belegen ist. Auch er macht sich die Meinung von der Anordnung der Bollen in Kreuzform zu eigen und will darüber hinaus in der Zahl der elf Wollrosen, die in Kirnbach üblich sind, einen Zusammenhang mit der christlichen Zahlensymbolik erkennen, nämlich "vier und vier bezeichnet Erde und Himmel, über ihnen die drei als die Zahl des dreieinigen Gottes"(15). Diese Auffassung ist auch deswegen fragwürdig, weil in Gutach vierzehn Bollen die Regel sind, was auch schon mit den heiligen Vierzehn Nothelfern in Verbindung gebracht wurde, eine Interpretation, die für die Tracht eines evangelischen Dorfes ausscheiden dürfte(16). Daß die Zahl der Bollen früher nicht festgelegt war, ergibt sich unter anderem aus der Angabe des damaligen Hornberger Pfarrers Ernst Lehmann, der in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts von "etwa 15 wollenen Puscheln" spricht(17).
Erik Thurnwald glaubt auch, daß die Wollrosen und deren Farben dem kirchlichen Symbolkreis entstammen und schreibt: "Bekannt ist die Legende, wonach das Blut des am Kreuze hängenden Heilands beim Herabfallen auf die Erde sich in rote Rosen verwandelte, desgleichen verwandelten sich der Legende nach die Tränen der Maria am Grabe Jesu in schwarze Rosen. Die Vermutung liegt nahe, daß die christliche Rosensymbolik hier mit eine Rolle gespielt hat, weil wir die hiesige Tracht sowohl mit roten wie mit schwarzen Rosen beobachten können." Auch zu dieser Meinung melde ich meine Zweifel an.
Daß der Gutacher Bollenhut mit so viel Mystik umgeben wurde, daran waren auch die Hutmacherinnen nicht ganz unschuldig. Sie achteten darauf, daß "ihr Gewerbe als eine Art Geheimlehre betrachtet und demgemäß immer nur an ganz vereinzelte Personen weiter gelehrt" wurde(18). Meist gab es im vorigen Jahrhundert nur zwei oder drei Hutmacherinnen im Bezirk Hornberg. 1896 war eine in Kirnbach und drei in Gutach, von denen allerdings nur eine ihren Beruf voll ausübte. Das Verhalten der Hutmacherinnen hatte seine Ursache in einer Konkurrenzangst, die bei dem begrenzten Absatzgebiet ihrer Produktion verständlich erscheint(19). Dies führte schließlich dazu, daß einige Jahrzehnte lang überhaupt keine Bollenhüte mehr hergestellt wurden. Der Beginn dieser Zeit wird auf das Jahr 1911 datiert(20). So genau ist der Anlaß aber nicht mehr festzustellen, vielleicht ist er auch mehr Vorwand als wirkliche Ursache gewesen. Der Malerpoet Eugen Falk-Breitenbach mag als Zeuge gelten, wenn er schreibt:(21) "Es war lange vor dem Ersten Weltkrieg. Die Gutacher rüsteten zu einem großen Trachten- und Heimatfest, das zu damaliger Zeit unter der Schirmherrschaft der Landesmutter, Großherzogin Hilda von Baden, stand. (Gutach war zu jener Zeit ein Musenort für Maler und Dichter). Alles war bis auf das kleinste gut vorbereitet; viele hundert Trachtenträger und Trachtenträgerinnen aus allen Tälern des Schwarzwaldes strömten dem Gutachtal zu. Die Großherzogin hatte ihren Besuch angesagt und erschien mit ihrem Hofstaat. Als Festgeschenk wurde ihr durch eine Frau der Gesellschaft ein extra schöner roter Bollenhut überreicht, der besonders für diesen Zweck angefertigt wurde. Mit dieser Überreichung hat das 'Drama' um den Gutacher Bollenhut begonnen. Die Ehre der Herstellerin des Bollenhutes war auf das tiefste verletzt, weil sie nicht würdig befunden worden war, der Landesherrin ihr Erzeugnis selbst zu überreichen. Ab diesem Tage verschwor sie sich, nie mehr einen Bollenhut anzufertigen oder zu verraten, wie man ihn herstellte; das gleiche tat auch ihre Nichte, die allein um die Anfertigung wußte".
Folgt man Eugen Falk-Breitenbach, so wurden von da an bis 1951, also vierzig Jahre lang, keine neuen Bollenhüte hergestellt. Ob dies zutrifft, sei mit einem Fragezeichen versehen, denn der Trachtenforscher Karl Spieß merkt an, daß um die fragliche Zeit vor dem Ersten Weltkrieg die Bollenhutmacherei vor dem Aussterben gestanden wäre, weil nur noch eine einzige Person die Hüte hätte anfertigen können. Er schreibt: "Alle Bemühungen, sie dazu zu bewegen, eine Schülerin in ihre Kunstfertigkeit einzuweihen, scheiterten an der Furcht vor der drohenden Konkurrenz. Und das Schicksal der Bollenhüte wäre besiegelt gewesen, wenn es nicht gelungen wäre, bei einer auswärtigen Lehrmeisterin mehr Entgegenkommen zu finden"(22).
Konkurrenzangst und übergroße Empfindlichkeit der Monopolinhaberin oder -inhaberinnen hatten in jedem Fall zu immer neuen Schwierigkeiten und damit zu einer Gefährdung der Tracht von einer Seite geführt, von der man sie zuletzt erwartet hätte.
Pflege
Nach dem Zweiten Weltkrieg scheint nun wirklich niemand mehr in der Lage gewesen zu sein, einen Gutacher Bollenhut herzustellen. Eugen Falk-Breitenbach berichtet, wie ihn der badische Staatspräsident Leo Wohleb um 1951 nach einer Dichterlesung in Freiburg damit beauftragt habe, "jemanden zu suchen, der sich wieder für die Herstellung des Bollenhutes interessieren würde". Als er die betagte Nichte der alten Bollenhutmacherin besuchen wollte, hatte diese nur Schimpfworte für ihn und wies ihn ab. Sie hatte die ihrer Tante vierzig Jahre früher angetane Schmach nicht vergessen. Falk-Breitenbach, dessen Frau gelernte Modistin war, kam auf die Idee, diese das Bollenhutmachen versuchen zu lassen. "Um nun auf anderem Weg hinter das Geheimnis zu kommen, kaufte ich meiner Frau einen alten schwarzen Bollenhut, der behutsam und sorgfältig bis ins kleinste Teil zerlegt wurde. Ich kaufte dann einen zweiten und einen dritten Bollenhut; meine Frau machte immer wieder neue Versuche, bis es ihr nach Monaten endlich gelang, einen Bollenhut herzustellen, der dem alten Original in nichts nachstand"(23).
Zum Heimat- und Trachtentag in Gutach 1952 wurde der erste neue Bollenhut getragen. Von da an fertigte Emma Falk-Breitenbach die Hüte für Gutach, Kirnbach und Reichenbach an, versandte sie aber auch an Besteller in aller Welt. Gegenüber früheren Zeiten wurde der Bollenhut nun noch etwas stattlicher und damit schwerer. Waren im 19. Jahrhundert kaum ein Pfund, um die Jahrhundertwende anderthalb Pfund Wolle genug, so sollen es jetzt zwei Kilogramm, also vier Pfund sein(24).
Seit vielen Jahren hat nunmehr die Nichte von Emma Falk-Breitenbach deren Nachfolge angetreten(25). Als weiterer Bollenhutmacher ist in Hausach ein gebürtiger Niederländer tätig. Außerdem soll ein Billigimitat des Bollenhutes "Made in Hongkong" auf dem Markt sein(26).
Wir können vermuten, daß die Bollenhuttracht und mit ihr viele andere Schwarzwaldtrachten schon früher verschwunden wären, wenn sie nicht die Aufmerksamkeit der Oberschicht hervorgerufen hätten, welche die Trachten unter anderem auch staatlichen Zwecken nutzbar machte. Hierher wären beispielsweise einige große Trachtenumzüge in der Residenzstadt Karlsruhe zu zählen, deren bedeutendste 1838, 1881 und 1885 stattgefunden haben und die vor allem der Ehre des Fürstenhauses galten. In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts gab es mehrfach Vorhaben, alle badischen Trachten museal zu sammeln und in Bild und Beschreibung zu dokumentieren. Diese Bemühungen wurden vom Großherzog gefördert.
Im Gegensatz zu den dokumentarischen und wissenschaftlichen Unternehmungen, die ja nie darauf abzielten, von den Trachtenträgern selbst das Festhalten an ihrer überkommenen Kleidung zu verlangen, entstand zu Anfang der 1890er Jahre eine Bewegung, die in Baden von dem katholischen Pfarrer, Schriftsteller und Politiker Heinrich Hansjakob und dem bereits erwähnten Maler Wilhelm Hasemann ausging und auf die Erhaltung der Trachten "am lebenden Objekt" gerichtet war.
1892 erschien im Herderschen Verlag in Freiburg die Schrift "Unsere Volkstrachten. Ein Wort zu ihrer Erhaltung von Pfarrer Hansjakob". Dieses 24 Seiten umfassende populär geschriebene Heftchen war von Hasemann angeregt worden. Es fand ein lebhaftes Echo und mußte mehrfach neu aufgelegt werden.
Hansjakob wollte damit einmal "ein Wort der Belehrung an alle jene deutschen Bauersleute, die heute noch den alten Trachten treu sind" richten, zum anderen "ein Wort der Mahnung und der Bitte, an alle, die dazu beitragen können, daß unserem Volke diese seine Tracht lieb und werth gemacht werde".
Auf einige wesentliche Punkte aus Hansjakobs Schrift möchte ich eingehen, weil sie in der Trachtenpflege bis heute fortwirken, obwohl sie durch die historische Entwicklung weitgehend widerlegt sind.
Für die Erhaltung der Volkstrachten sprechen nach Hansjakob fünf Gründe. Zunächst läge deren Erhaltung im Interesse der Bauern selbst. Die Tracht wäre Ausdruck eines bäuerlichen Standesgeistes, eines Stolzes, den der Bauer anderen gegenüber auch zur Schau trüge. Hinzu kämen allerdings auch wirtschaftliche Überlegungen. Hansjakob sieht einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Ablegen der Tracht und dem Sinken des Wohlstandes, wobei er ganz sicher Ursache und Wirkung verwechselt.
Eine andere Begründung für das Beibehalten der Tracht findet Hansjakob in der Religion. Die Beseitigung der Volkstrachten hätte auch auf das religiöse Verhalten Einfluß gehabt. Viele hätten mit dem alten "Häs" auch den alten Glauben ausgezogen.
Als drittes führt Hansjakob staatspolitische Gründe ins Feld. Für ihn sind die Trachten "Vorwerke für den Bestand eines geordneten, erhaltenden (conservativen) Staatslebens". "Der neumodisch gekleidete Bauer ist revolutionären Ideen weit geneigter als der alte Trachtenbauer". Wenn man aber weiß, daß sich Trachten eben nur in wohlhabenden Bauerngegenden entwickelt haben, was Hansjakob offenbar übersehen hat, dann liegt die Erklärung für das Verhalten trachtenloser Bauern nicht in der Kleidung, sondern in ihrer schlechten wirtschaftlichen Lage. "Solange der Bauer in seinem Sonderleben erhalten bleibt", sieht Hansjakob nicht die Gefahr einer "socialen Revolution". "Darum hat niemand ein größeres Interesse an der Erhaltung unseres Bauernstandes in Religion, Sitte, Tracht und Sprache als der bestehende Staat, die bestehende Gesellschaft." Mit dem Interesse des Staates ist nach Hansjakob auch das gesellschaftliche verbunden. Aus dem Landvolk regeneriere sich die ganze Gesellschaft in religiöser, geistiger und physischer Hinsicht. "Wo soll aber die Nervenkraft und die Unverwüstlichkeit des Bauernwesens hinkommen, wenn die Bauernfrauen und -mädchen einmal allgemein Sonnenschirm und Corsets und die Burschen und Männer Sommer-, Frühjahrsüberzieher und wollene Unterkleider, Cylinder und Glacéhandschuhe tragen?" fragt Hansjakob.
Schließlich nennt er als letzte Begründung für die Erhaltung der Trachten "die Kunst und die Poesie". Damit meint er die Anziehungskraft, die Trachtengebiete auf Maler und Sommerfrischler ausüben.
Zur Frage, wie die Volkstrachten erhalten werden könnten, appelliert Hansjakob zunächst an die Landleute selbst, daß sie in ihren Häusern und Familien nicht dulden sollten, daß irgend jemand seine Tracht ablege. Den Mädchen empfiehlt er, solche "Kameradinnen", die nach einiger Zeit in der Fremde ohne Tracht heimkehrten zu meiden und zu verlachen. Auch sollten sie keinen Burschen heiraten, "der ein neumodisches Häs anzieht".
Die Landleute müßten daran denken, "daß sie mit ihren Volkstrachten nicht nur der Welt, sondern auch Gott eine Freude machen".
Da nach Hansjakobs Darlegungen alle Stände an der Erhaltung der Volkstrachten interessiert seien, müßten sie auch etwas dafür tun. So dürften Geistliche, Lehrer, Beamte und Arzte keine Gelegenheit versäumen, dem Volk die alte Tracht anzuempfehlen "und hinzuweisen auf die Folgen, welche ein Verlassen der alten Tracht mit sich bringt". Auch Offiziere könnten bei ihren Rekruten auf das Beibehalten der Tracht hinwirken.
Hansjakob geht aber noch weiter und rät "Herren und Damen selbst wieder mehr zu den alten Trachten zurückzugehen". So meint er, es könnten sich "unsere Stadtdamen z.B. in der Sommerfrische in dieser frischen Tracht sehen lassen" und führt als leuchtendes Vorbild die junge Großherzogin Luise an, die er in den fünfziger Jahren in Gutacher Tracht durch das Kinzigtal fahren gesehen hatte. "Solche Beispiele ziehen im Volke. Es freut sich seiner Tracht, wenn es sie geehrt sieht".
Nachdem lange Zeit das Verschwinden der Trachten bedauernd zur Kenntnis genommen worden war, stellte Hansjakobs Schrift die erste, von einer größeren Öffentlichkeit beachtete Aufforderung zu einer aktiven Trachtenpflege dar. Hansjakob hat damit die Programmschrift für die bald danach entstehenden Trachtenvereine vorgelegt.
Diese waren aber nicht etwa Zusammenschlüsse von Trachtenträgern, sondern von Honoratioren, hohen Regierungsbeamten, Pfarrern, Professoren und Künstlern. Die Erbgroßherzogin Hilda übernahm das Protektorat über die Vereine. Bei größeren Trachtentreffen war zumeist das großherzogliche Paar anwesend.
Der erste derartige Verein wurde im Anfang des Jahres 1893 in Hausach "zur Erhaltung der Volkstrachten im Gutach- und Kinzigthal" gegründet.
Heute wundert man sich, wie Hansjakobs polemischer, unsachlicher und unlogischer Aufruf so viel Beachtung finden konnte. Offensichtlich hatte er die Meinung maßgebender Leute genau getroffen. Dennoch konnte Widerspruch nicht ausbleiben. Er wurde vor allem artikuliert durch den Pfarrer des berühmten Trachtendorfes Gutach. Dieser ließ vier Jahre nach Hansjakob 1896 in Zell im Wiesental seine 38 Seiten starke Schrift "Die Erhaltung der Volkstrachten. Eine Warnung von Richard Nuzinger, Pfarrer in Gutach" erscheinen. Hansjakobs wirklichkeitsfremder Darstellung weiß Nuzinger nüchterne Überlegungen entgegenzusetzen. Freilich freut auch er sich an der Tracht, doch beurteilt er aus einer profunden Kenntnis der Verhältnisse die Möglichkeiten und die Notwendigkeit der Trachtenerhaltung wesentlich anders als Hansjakob.
Nach Nuzingers wie Hansjakobs Auffassung ist der Rückgang der Trachten in erster Linie durch eine vermehrte Freizügigkeit aller Bevölkerungsgruppen, auch der ländlichen, verursacht. Nur stellt Nuzinger an Hansjakob die Frage: "Soll die Freizügigkeit etwa aufgehoben oder erschwert werden, die die Menschen so leicht von einem Ort zum anderen befördert?" Andere Gründe für den Trachtenschwund sieht Nuzinger darin, daß die Trachten beschwerlich und unpraktisch, daß sie außerdem in der Anschaffung teuer und doch nicht ganz so dauerhaft sind, wie Hansjakob glaubt. Das Interesse an der Trachtenerhaltung stellt Nuzinger daher auch weniger bei den Bauern als vielmehr bei bestimmten städtischen Kreisen fest. Wenn Hansjakob recht hätte, dann wären Bauernstand, Kirche, Staat und Gesellschaft nur von der Erhaltung der Volkstrachten abhängig. Mit solchen Übertreibungen täte man aber der Sache selbst nicht die besten Dienste. Man könne die Bauern doch nicht von der kulturellen Entwicklung fernhalten und sich zu deren Vormund aufspielen. Nuzinger widerspricht Hansjakob entschieden in seiner Meinung, daß mit der Tracht auch die frühere religiöse Haltung abgelegt werde. "Wenn die Tracht dazu beiträgt, den Bauer in seinem 'Kirchenschlaf' zu erhalten, so wäre das Verschwinden derselben nicht zu sehr zu bedauern. Die Religion hat kein Interesse an der Erhaltung der Volkstrachten." Auch politisch ließe sich der Bauer auf Dauer nicht bevormunden. Für Nuzinger ist Hansjakobs künstlerischer Aspekt als einziger akzeptabel. Die Maler seien wirklich an den Trachten interessiert.
Den Trachtenvereinen wirft Nuzinger vor, daß sie keine Wurzeln im ländlichen Bereich hätten. Als erfreulich erkennt er aber das Sammeln von Trachten an. Er verdammt zwar nicht prinzipiell die finanzielle Förderung von Erstkommunikanten, Konfirmanden und Brautleuten bei der Beschaffung ihrer Trachten durch die Vereine, verspricht sich davon aber auch nicht viel.
Im übrigen findet es Nuzinger einfach anmaßend, den Landleuten sagen zu wollen, was sie anziehen sollten. Es sei auch noch keinem Verein eingefallen, "die Narrheiten der Pariser Mode von den Städtern fernhalten (zu) wollen".
Die vielerlei in Mode gekommenen Trachtenfeste in immer anderen Städten lehnt Nuzinger gleichfalls ab. Sie seien infolge ihrer Häufigkeit dazu geeignet, gerade die Jüngeren mit ihren ländlichen Verhältnissen unzufrieden zu machen. So beklagt Nuzinger, daß die überall erwünschten Gutacher Mädchen mit ihren roten Bollenhüten durch die ständige Bewunderung, der sie ausgesetzt wären, recht eitel würden. Nuzinger weiß auch, daß zu den Trachtenfesten keineswegs nur solche Leute kommen, die ständig Tracht tragen, wie es von den Veranstaltern verlangt würde.
Insgesamt hält Nuzinger den moralischen Schaden, den solche Feste anrichten, für erheblich größer als den möglichen Nutzen, den sie stiften könnten. Was das Trachtentragen durch Kurgäste angeht, konnte Nuzinger beobachten, daß dies eher karikierend und damit abstoßend auf die Bauern wirkte als daß sie sich dadurch geehrt fühlten, wie Hansjakob meinte.
Obwohl Nuzingers Kritik an Hansjakob und an der Tätigkeit der Trachtenvereine, die sich ja des Wohlwollens der landesfürstlichen Familie erfreuten, keineswegs der herrschenden Meinung entsprach, fand auch er mannigfache Zustimmung, die aber doch folgenlos blieb.
An die Öffentlichkeit traten die Trachtenvereine vor allem mit ihren Festen. Beschränkten sich diese 1894 noch auf wenige Beispiele, so ist aus dem darauffolgenden Jahr von einer wahren Festflut zu berichten, die danach aber doch rasch wieder abflaute und sich auf ein erträgliches Maß einpendelte.
Das erste derartige Fest, das in manchem noch den Charakter eines lokalen Künstlerfestes trug, fand am 20. August 1894 in Gutach statt. Veranstalter war der vorhin genannte Trachtenverein für das Gutach- und Kinzigtal. Dabei wurden unter Anleitung des in Gutach ansässigen Malers Wilhelm Hasemann und der beiden Stuttgarter Künstler Fritz Reiß und Albert Kappis "lebende Bilder aus dem Leben der Dorfbewohner von der Wiege bis zum Grab" gestellt. "An den Bildern beteiligten sich Männer und Frauen, Burschen und Mädchen aus Gutach, aber auch Sommerfrischler, wie sich das so fand." schrieb der Karlsruher Gewerbeschuldirektor Dr. Thomas Cathiau(27). Ganz so spontan und improvisiert, wie die Sache nachträglich dargestellt wurde, konnte sie aber doch nicht abgelaufen sein, denn die Szenen erforderten von den Mitwirkenden nicht nur Zeitaufwand, sondern auch teilweise die Bereitschaft, sich von Fremden in ihren privaten Bereich hineinschauen zu lassen. Auf Wunsch des Oberamtmanns Becker aus Wolfach wurden die Szenen von dem Dozenten der Photographie an der Technischen Hochschule Karlsruhe, Fritz Schmidt, aufgenommen, was bei dem damaligen Stand der Technik den Beteiligten viel Geduld abforderte. Trotz ungünstigen Wetters kamen viele Besucher von außerhalb. "Die Dorfleute" sollen "wegen Mißbrauchs ihrer Tracht" keineswegs verstimmt gewesen sein. Man hätte auch nicht gehört, "daß sie sich alteriert hätten über die Einführung einer so städtischen Neuerung in ihr stilles Dorf, wie dies lebende Bilder sind mit photographischem und anderem Apparat.
Auf diesen Photographien sehen die Leute im Gegenteil sehr vergnügt aus, und 'ihren Kunschtmaler' gäben sie um keinen Preis her, der so 'g'spaßigs Zeugs' mit ihnen anzufangen weiß"(28). Auffällig ist der herablassende Ton, in dem Dr. Cathiau über "die biederen Gutacher" berichtet. Er steht keinesfalls vereinzelt da, sondern ist bezeichnend für die Haltung mit der viele sogenannte "Gebildete" der Landbevölkerung begegneten. Er findet sich auch im Vorwort zu einem Erinnerungsalbum, das im Anschluß an das Fest "Der hohen Protectorin der Trachten-Vereine des Landes Ihrer Königlichen Hoheit Erbgroßherzogin Hilda von Baden ehrfurchtsvoll gewidmet" wurde(29). Dort heißt es: "Freudig folgte das heitere Völkchen, das mit Recht stolz ist auf seine malerische Tracht, dem Rufe der beliebten Künstler... ". Ob dem wirklich so war, bleibt zweifelhaft. Immerhin berichtet Nuzinger im Hinblick auf solche Feste von Äußerungen einzelner seiner Pfarrkinder, daß "die Bauern die Narren und Affen machen müssen für andere Leute"(30). Wahrscheinlich hatten sich die meisten Gutacher aber allmählich an das Treiben der Maler und Photographen und an die in deren Gefolge anreisenden Fremden gewöhnt. Sie waren auf Besucher eingestellt und trugen ihre Tracht und das von ihnen erwartete "ächte" Benehmen mit einer gewissen Attitüde zur Schau. Solche Beobachtungen werden vielfach auch aus anderen Trachtengebieten berichtet.
Für Gutach weiß Dr. Cathiau vom Einfluß der Künstler auf die Mentalität der Einwohner zu berichten, wenn er schreibt: "Um 'Hasemann’s Heim' hatte sich nach wenigen Jahren, namentlich während des Sommers eine Künstlerkolonie gruppiert, deren künstlerische Thätigkeit und deren gesellschaftliches Auftreten schon ein wenig reformierend auf die Kreise der Bewohner, namentlich der Trachtenträgerinnen influieren mußte"(31). Wohl zum Trost fügt er hinzu, daß dies "im bayerischen Gebirge, in Tyrol, im Berner Oberland und in den Abruzzen" genau so sei und zitiert zur Bekräftigung noch das Münchner Witzwort "Wo d’Mola hinkumme, is’s aus mit die Frumme!"
Ob die Künstler und Honoratioren nicht bemerkten, daß sie mit ihrem Eindringen in das dörfliche Leben die Ursprünglichkeit zerstörten, derentwegen sie eigentlich gekommen waren?
Der bei weitem größte badische Trachtenfestzug vor dem Ersten Weltkrieg fand mit 2.314 Teilnehmern am 29. Septermber 1895 im Zusammenhang mit der oberbadischen landwirtschaftlichen Ausstellung in Freiburg statt. Der Freiburger Festzug ist in einer von Hasemann illustrierten Broschüre beschrieben, die "allen ländlichen Fest-Teilnehmern gewidmet" wurde(32).
Dort heißt es unter anderem: "Die Krone aber setzten all’ diesen schönen Volkstrachten die Gutacher auf. Von weitem schon leuchteten die weißgegypsten Strohhüte mit den rothen Wollrosen (Bollen) durch die Menschenmassen. Mit welcher Hochgefühl diese Mädchen daherschritten, mit welcher Würde! Man sah es ihnen an, daß sie aus einem wohlhabenden Thal kamen, in dem es Bauern giebt, die mit manchem Rittergutsbesitzer des Nordens konkurrieren könnten."
Vermarktung
Aus allem, was ich geschildert habe, dürfte deutlich geworden sein, daß die Geschichte der Bollenhuttracht auch die ihrer von außerhalb initiierten Pflege und Vermarktung ist. Eines läßt sich nicht vom anderen trennen. Viele Faktoren haben zu dem Bild beigetragen, das wir uns von der Tracht machen.
Wenn sich Trachtenschützer heute darüber aufregen, daß "miniberockte und gestiefelte Fremde mit Bollenhüten aufkreuzen",(33) dann ist der Grund für diese Aufregung, wie wir gesehen haben, so neu nicht. Angefangen hat damit ja die badische Großherzogin Luise und mit ihr die Damen der Kurgesellschaft in Rippoldsau und im Kinzigtal. Auch Heinrich Hansjakob hat vierzig Jahre später die Sommerfrischlerinnen aufgefordert, sich "in dieser schmucken Tracht sehen (zu) lassen", um damit die Bauern im Trachtentragen zu bestärken(34). Die Aneignung der Tracht oder von einzelnen Teilen durch Fremde hat also Tradition.
Der Tracht selbst hat sie nichts genützt, wie schon der Pfarrer Richard Nuzinger wußte, wenn er 1896 schrieb: "Die Gutacher werden modern, und das bedeutet den Untergang ihrer Tracht. Denn eine Tracht fühlt sich nur wohl und erhält sich auf die Dauer nur in der Verborgenheit und Abgeschlossenheit; wenn sie aber in die Offentlichkeit gezerrt, auf den Markt geschleppt und zum Gemeingut wird, dann ist ihre Zeit vorbei"(35). In Anspielung auf die Bemühungen des "Volkstrachtenvereins Freiburg und Umgegend" spottet Nuzinger: "Wenn es so weiter geht, wird man die allein echte Gutacher Tracht nur noch in Freiburg antreffen."
Dem Trachtentragen durch Kurgäste kann Nuzinger nur teilweise positive Aspekte abgewinnen. Aus seinen Beobachtungen sei wörtlich zitiert:(36)
"Es giebt... Kurgäste, die sich meist nur einige Tage in der Gegend aufhalten, und die sich während dieser Zeit möglichst gut amüsieren wollen. Daß dabei auch die Bauern den Stoff zum Amüsement hergeben müssen, ist klar. Da werden dann die Bauern mit Gönnermiene als 'Herr Vetter' oder bloß als 'Vetter' angeredet und ihnen leutselig auf die Schultern geklopft, da kann noch einer, der in der Stadt als ein bedeutungsloses Null herumläuft, etwas aus sich machen und den großen Herren spielen, da wird das Maul weit aufgerissen und wichtig gethan, und solche Sommervögel können es dann am allerwenigsten lassen, auf die auffallendste Weise mit ihren geliehenen Trachten im Ort herumzukokettieren, wobei ein überlegenes, selbstgefälliges Lächeln auf ihren Gesichtern spielt. Da wird dann der Bauer karrikiert. Der Städter, der zum erstenmale oder überhaupt 'zum Scherze' eine Tracht anzieht, fühlt sich dann - und in diesem Falle mit Recht - als Maske und fängt an, Possen zu reißen und Luftsprünge zu machen. Und wenn dann der Bauer sieht, auf welche Weise vor seinen eigenen Augen seine altehrwürdige Tracht mißbraucht wird, dann soll er sich auch noch geehrt fühlen...
Wenn diese Art von Kurgästen aber meint, die Bauern hätten kein Gefühl für ein derartiges Benehmen ihnen gegenüber, so täuschen sie sich sehr. Wenn fremde Herren oder fremde Damen, die mit dem Volksleben auf dem Lande weder Fühlung haben noch Sinn und Verständnis dafür zeigen, in einheimischen Trachten einherstolziert kommen, so erregt das beim Bauern im günstigsten Fall ein spöttisches Lächeln, oft aber auch bitteren Unwillen und wird als Beleidigung aufgefaßt und trägt gleichfalls zum Verschwinden der Volkstrachten bei."
Es ist sicher richtig, daß die Maskeraden von Fremden, das häufige Modellstehen vor Malern und Photographen, die zunehmenden Reisen zu auswärtigen Trachtenfesten, die Vermarktung der Tracht eher zu ihrem Schaden als zu ihrem Nutzen waren. Hierher gehören auch die gehäuften Bitten um die Ausleihe von Trachten, die um die Fasnachtszeit in Gutach eingingen.
Hinzu kam die Verwertung der Tracht in allen möglichen kommerziellen Zusammenhängen. So gab es schon in den neunziger Jahren Trachtenbilder nicht nur auf den von Hasemann entworfenen ersten Künstlerpostkarten und auf Briefbogen, sondern in Freiburger Schaufenstern fanden sich Puppen in Gutacher Tracht oder Gutacher auf Kaffeetassen und andere Gebrauchsgegenstände gemalt(37). Die Bollenhutmacherinnen verdienten sich durch die Anfertigung von Puppenhüten damals auch schon etwas hinzu(38).
Die Vermarktung der Gutacher Tracht hat also Tradition. Über ihre heutige Verwendung in der Werbung braucht nicht viel gesagt zu werden. Die ist aus allgemeiner Anschauung bekannt. Doch waren solche Nutzungen der Tracht immer auch von Kritik begleitet.
In Jüngster Zeit sind verstärkt Bestrebungen zu beobachten, die gegen den jahrzehntelang hingenommenen "Mißbrauch" der Tracht Sturm laufen. Am liebsten hätten die Bollenhutgemeinden eine Art "patentrechtlichen Schutz" gehabt. Bemühungen darum scheint es schon um 1950, dann 1976 gegeben zu haben. Aber eine Anfrage im Landtag von Baden-Württemberg ergab, daß dem Mißbrauch der Tracht "durch staatliche Maßnahmen nicht abgeholfen werden" könne(39).
Es wurde daher im März 1982 ein Ausschuß der drei Orte Gutach, Reichenbach und Kirnbach gebildet, dessen Vorsitz Bürgermeister Volker Sahr von Gutach übernahm.
Bei der Presse hat er großes Echo und bei den Politikern Verständnis gefunden, weniger allerdings bei der Wirtschaft.
Im Januar 1984 meldete die Presse "Erste Erfolge im Kampf gegen Trachtenmißbrauch" und zitierte Bürgermeister Sahr: "Mit dem Image des Bollenhutes geht es wieder aufwärts. Wir haben seine schamlose Vermarktung gestoppt"(40).
Ich glaube dennoch, daß sich die nunmehr hundert Jahre währende "Vermarktung" der Bollenhuttracht nicht aufheben läßt. Dafür ist sie zu sehr Symbol geworden, Markenzeichen für den Schwarzwald.
Anmerkungen
1.) Dieser Beitrag stellt die leicht gekürzte Fassung eines Vortrages dar, der am 28. September 1988 im Evangelischen Gemeindehaus in Gutach im Auftrag des Schwarzwälder Freilichtmuseums Vogtsbauernhof gehalten wurde. Ausführlich geschrieben hat der Verfasser über die Kulturgeschichte badischer Trachten in seinem Buch "Volkstracht in Baden. Ihre Rolle in Kunst, Staat, Wirtschaft und Gesellschaft seit zwei Jahrhunderten", erschienen 1988 im Badenia-Verlag. Karlsruhe.▲
2.) So beispielsweise: Martha Bringemeier, Mode und Tracht. Beiträge zur geistesgeschichtlichen und volkskundlichen Kleiderforschung. Münster 1980, S. 32.▲
3.) Vergleiche hierzu: Torsten Gebhard, Der Begriff der Echtheit in der Volkstracht. In: Volkskultur und Geschichte. Festgabe für Josef Dünninger zum 65. Geburtstag. Berlin 1970, S. 307.▲
4.) Lutz Röhrich, Strohflechten als Heimarbeit. In: Aloys Schreiber, Badisches Volksleben. Mit einem Kommentar von Lutz Röhrich. Freiburg 1978. Unveränderter Nachdruck von "Trachten, Volksfeste und Charakteristische Beschäftigungen im Grosherzogthum Baden in XII malerischen Darstellungen und mit historisch-topographischen Notizen begleitet". Freiburg 1820-1827.▲
5.) Rose Julien, Die alemannisch-schwäbischen Kopftrachten. In: Volk und Rasse. 3. Jg. (1928), S. 43.▲
6.) Enthalten in Eduard Duller, Das deutsche Volk in seinen Mundarten, Sitten, Bräuchen und Trachten. Erstmals erschienen 1847, Neudruck München 1980, S. 419.▲
7.) Josef Bader, Badische Volkssitten und Trachten. Karlsruhe 1843-1844, Neudruck unter dem Titel "Trachten und Bräuche in Baden". Freiburg 1977.▲
8.) Charles Lallemand: Les paysans badois. Esquisse de moeurs et de coutumes. Straßburg 1860.▲
9.) Zwei Aquarelle von Rudolf Gleichauf, gemalt 1866, Badisches Landesmuseum Karlsruhe.▲
10.) Gemälde von Benjamin Vautier "Erste Tanzstunde" (1868), Besitz unbekannt. Karl Ude, Bauernromantik in der Malerei des 19. Jahrhunderts. München 1978, Abb. 12.▲
11.) Charles Lallemand (wie Anm. 8), S. 23.▲
12.) Näheres über Hasemann siehe bei Hermann Eris Busse, Der Schwarzwaldmaler Wilhelm Hasemann. Bühl 1921 und neuerdings bei Ludwig Vögely: Der Schwarzwaldmaler Wilhelm Hasemann (1850 - 1913). In: Badische Heimat. 69. Jg. (1989), S. 12 - 25. Außerdem: Schwarzwaldmaler Wilhelm Hasemann, 1850 - 1913, Katalog zur Gedächtnisausstellung Gutach 1988.▲
13.) Wilhelm-Hasemann-Brief über die Gutacher Tracht. In: Mein Heimatland. 18. Jg. (1931), S. 104 - 106.▲
14.) Curt Liebich, Die Trachten des Kinziggaues. In: Ekkhart. Kalender für das Badner Land. Jg. 2 (1921), S. 4.▲
15.) Erik Thurnwald, Die Kirnbacher Ortstracht. In: 700 Jahre Kirnbach 1275 - 1975. Geschichte und Gegenwart eines Schwarzwalddorfes. Kirnbach 1975, S. 43 - 47.▲
16.) Eugen Falk-Breitenbach, Menschen, Täler und Wälder. Lahr 1981, S. 60. - Kurt S. Jaeger,
Tradition einer Tracht. Rote Bollen tragen nur die Mädchen. In: Merian. Mai 1979, S. 94 - 95.▲
17.) Ernst Lehmann, Weberei, Färberei und Hutmacherei im Gebiet der Gutacher Tracht. In: Schriften des Vereins für Socialpolitik LXIX. Leipzig 1897, S. 121.▲
18.) Ebd. S. 135.▲
19.) Karl Bittmann, Hausindustrie und Heimarbeit im Großherzogtum Baden zu Anfang des XX. Jahrhunderts. Bericht an das Großherzoglich Badische Ministerium des Innern. Karlsruhe 1907, S. 569. Karl Spieß, Die deutschen Volkstrachten. Leipzig 1911, S. 52.▲
20.) Albert Reinhardt und Eugen Falk, Der Gutacher Bollenhut. Farblichtbildreihe V 5. Begleitheft. Landesbildstelle Baden. Karlsruhe 1965, S. 8 - 9.▲
21.) Eugen Falk-Breitenbach (wie Anm. 16), S. 61.▲
22.) Karl Spieß (wie Anm. 19), S. 52.▲
23.) Eugen Falk-Breitenbach (wie Anm. 16), S. 63.▲
24.) Albert Reinhard und Eugen Falk (wie Anm. 20), S. 7.▲
25.) Waltraut Werner-Künzig, Schwarzwälder Trachten. Karlsruhe 1981, S. 89.▲
26.) "Trachtenschützer ärgern sich". In: Weinheimer Nachrichten vom 26.3.1983.▲
27.) Thomas Cathiau, Gedanken über die Erhaltung der Volkstrachten. Sonderabdruck aus dem Unterhaltungsblatt der Badischen Landeszeitung (1896), S. 7.▲
28.) Ebd. S. 8.▲
29.) Ein Gruß aus dem Schwarzwald! Herausgegeben von dem Verein zur Erhaltung der Volkstrachten im Gutach- und Kinzigthal (Wolfach im Bad. Schwarzwald). Karlsruhe o. J.▲
30.) Richard Nuzinger, Die Erhaltung der Volkstrachten. Eine Warnung. 2. Aufl. Heidelberg 1897, S. 33.▲
31.) Thomas Cathiau (wie Anm. 27), S. 4 - 5.▲
32.) Gedenkblatt an den Festzug der oberbadischen Volkstrachten am 29. September 1895 zu Freiburg im Breisgau. Freiburg 1896.▲
33.) "Trachtenschützer ärgern sich" (wie Anm. 26).▲
34.) Heinrich Hansjakob, Unsere Volkstrachten. Ein Wort zu ihrer Erhaltung. Freiburg 1892, S. 22.▲
35.) Richard Nuzinger (wie Anm. 30), S. 26.▲
36.) Ebd. S. 34 - 35.▲
37.) Ebd. S. 26.▲
38.) Ernst Lehmann (wie Anm. 17), S. 136.▲
39.) "Trachtenschützer ärgern sich" (wie Anm. 26).▲
40.) Badische Neueste Nachrichten vom 9.1.1984.▲