Das freie Reichstal Harmersbach - Über die schwierige Wahrnehmung von Geschichte
Eugen Hillenbrand - Die Ortenau 2003, S. 47 ff.
"Die heutige deutsche Reichsregierung könnte sich an dem Senat von Harmersbach, dessen Oberhaupt ein Metzger und dessen Mitglieder Bauern waren, ein Muster nehmen." So lautete der Kommentar zu einer von Reichsvogt und Altem Rat erlassenen "zeitgemäßen Bekanntmachung, die der Pfarrer auch von der Kanzel verlesen soll". Man ahnt schon, aus wessen Feder der Kommentar stammt: Heinrich Hansjakob schrieb ihn in seiner 1891 erschienenen Erzählung "Der letzte Reichsvogt"(1). Er schildert darin die Geschichte des Hansjörg Bruder, der, von Beruf Metzger, 1771 Wirt der "Stube" in Oberharmersbach wurde. Hansjakob nennt sie "das politische Zentrum", "das Kasino der Reichsbauernschaft vom Harmersbachtal". Hier konnte der Mann hinterm Schanktisch offensichtlich erfolgreich mitmischen, sodass er 1776 vom Zwölferrat als Kandidat für das Amt des Reichsvogtes aufgestellt wurde, allerdings unter der Bedingung, dass er im Falle seiner Wahl "abe der stuben" sein sollte. Ein Teil der Gemeinde hatte sich für einen Gegenkandidaten stark gemacht. Die Entscheidung musste der Abt von Gengenbach treffen. Er sprach sich für den Hansjörg Bruder aus. Der neu ernannte Reichsvogt erwirkte beim Rat sogar einen weiteren Fünfjahresvertrag als Stubenwirt. Unter seinem Dach tagte, wie gewohnt, das Vogtsgericht, während der Abt an seinem üblichen Gerichtstag den offenen Platz vor der Kirche bevorzugte.
Die Personalunion von Stubenwirt und Reichsvogt störte die Bauern des Tales keineswegs. Erst als 1803 die Reichsherrlichkeit zu Ende war und durch die markgräflich-badische Regierung abgelöst wurde, erklärte diese die Unvereinbarkeit beider Ämter. Mit unverhohlener Sympathie schildert Hansjakob das Wirken des alten Reichsvogtes, der durch die politische Neuordnung zum badischen Kleinvogt degradiert worden war. Der Gedanke an diesen Niedergang ließ Hansjakob geradezu erschaudern: "... als Reichsvogt vom Harmersbach, als Herr über Leben und Tod, als ein Mann, der bisher nur das Reichsgericht und den Kaiser über sich hatte, wäre ich nie badischer Vogt geworden, Untertan eines badischen Obervogts in Klein-Gengenbach."(2) Sein Hansjörg aber blieb im Amt, zumal er von dem großherzoglich-badischen Landvogt zu Mahlberg, dem Freihern Adam Franz X. von Roggenbach, ausdrücklich empfohlen wurde: "Der Reichsvogt ist ein verständiger Bauersmann."(3)
Heinrich Hansjakob wollte mit seiner Erzählung und den kräftigen Kommentaren den Stolz der Oberharmersbacher auf ihre große Geschichte wach halten, auf "die alte Bauernherrlichkeit im Kinzigtal". Sein Kolossalgemälde lehnt sich an bekannte Vorlagen an. Sie gehörten zum Repertoire heftigster Debatten, die seit dem 19. Jahrhundert unter Verfassungsund Wirtschaftshistorikern zum Thema "Bäuerliche Gemeinde" geführt und gerade in jüngster Zeit wieder neu aufgenommen wurden. Erst vor zwei Jahren publizierte der Berner Historiker Peter Blickle ein zweiibändiges Werk unter dem Titel: "Kommunalismus. Skizzen einer gesellschaftlichen Organisationsform".(4) Er fasst darin die wesentlichen Punkte der wissenschaftlichen Diskussion zusammen, die er selbst 1981 mit dem aufsehenerregenden Buch "Deutsche Untertanen. Ein Widerspruch" in Gang gesetzt hat. Darauf komme ich später zurück. Zunächst interessiert das Modell, von dem Hansjakob ausging, wenn er die "Bauern-Fürsten" seiner Heimat schilderte.
Seit George Ludwig von Maurer 1854 die berühmten "Abhandlungen über die Mark-, Hof- und Dorfverfassung"(5) vorgelegt hatte, bestimmte seine Lehre von den "Gemeinfreien" die wissenschaftliche Forschung. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung lässt mit Recht vermuten, dass Maurers Theorie einer urgermanischen Gemeinschaft freier, den Boden gemeinsam nutzender Bauern auf den Vorstellungen der Revolution von 1848 ruhte. Er war überzeugt, dass diese Mark-Genossenschaft der Freien im mittelalterlichen Dorf ihre Fortsetzung fand und bis in die Neuzeit als historisches Modell wirksam blieb. Die ideologischen Implikationen seiner Doktrin reichen in der Tat noch weit in unsere Gegenwart hinein, jedenfalls wurden sie von der marxistischen Geschichtswissenschaft und von den Vordenkern des Dritten Reiches erfolgreich weitergeführt.
Auch Hansjakob war diesem Modell verpflichtet. Ihm bot ein Schwarzwaldtal das beste Anschauungsmaterial für eine "Mark", die das Deutsche Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm als "umgrenztes Gesamteigentum einer Gemeinde an Grund und Boden" definierte(6). In diesem natürlichen Lebensraum seiner engeren Heimat fand er ein Urgestein von Menschen, die ihr Zusammenleben selbst regelten und ihre Wirtschafts- und Rechtsordnung gemeinsam sicherten: "seit unfürdenklichen Zeiten" eine Bauernrepublik, deren Freiheit im Mittelalter vom Kaiser als dem Reichsoberhaupt gewährleistet wurde.
Gegen die strenge Markgenossenschafts-Theorie wurden schon seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts Gegenstimmen laut, die einen ursprünglichen Agrarkommunismus ablehnten. Der Wirtschaftshistoriker Alfons Dopsch veröffentlichte 1941 (!) einen viel beachteten Aufsatz über "Die Grundherrschaft im Mittelalter".(7) Ein Ergebnis seiner Untersuchung lautete: "Die freien Dörfer und Dorfgemeinden des späten Mittelalters waren keineswegs Überreste einer angeblich ursprünglich vorhandenen allgemeinen Freiheit der Bauern, sondern sind erst allmählich im Verlaufe des Mittelalters durch Verselbständigung unfreier Dorfgemeinschaften entstanden."
Karl Siegfried Bader, ein Schwarzwälder wie Hansjakob, formulierte 1967 in seinen "Studien zur Rechtsgeschichte des mittelalterlichen Dorfes" knapp und ruppig: "die freie Urmark-Genossenschaft erscheint uns als juristische Fehlkonstruktion, ... im historischen Bereich jedenfalls der Frühzeit ist für sie kein Raum."(8)
Die Bauern in Hansjakobs Erzählung vom letzten Harmersbacher Reichsvogt führten ihre "Freiheit" noch in "unfürdenkliche Zeiten" zurück. Leider kann ihnen der Historiker keine Belege nachreichen. Auch Karl-August Lehmann beginnt seine materialreiche Geschichte des Tales(9) erwartungsgemäß mit jener Papsturkunde von 1139, worin uns zum ersten Mal der Name "Harmersbach" schriftlich überliefert ist.(10) Die "unfürdenklichen Zeiten" sind da schon kräftig zurückgestutzt, und von "freien Bauern" finden wir darin keine Spur. Dafür aber verbindet der Urkundenaussteller, Papst Innozenz II., das Harmersbachtal mit der Abtei Gengenbach, die er nun durch einen Rechtsakt in seinen apostolischen Schutz und Schirm nimmt: "Was immer das Kloster als Besitz und Güter innehat, das soll es für alle Zeit ungeschmälert behalten." Zur besseren Übersicht werden die Namen vier Großräumen zugewiesen: Ortenau, Breisgau, Elsass und Schwaben. In der Ortenau selbst sind zwei Besitzkomplexe getrennt aufgeführt:
1. Das Vordere Kinzigtal mit sieben Orten: Gengenbach, Zell, Steinach, Harmersbach, Reichenbach, ein Viertel der Burg Geroldseck und Nordrach. Für alle gilt der Zusatz: "mit Wäldern und Gewässern und allem, was dazu gehört".
2. Die Rheinebene mit fünf Orten: Ichenheim, Schopfheim, Kinzigdorf, Linx und Tutschfelden (bei Herbolzheim).
Das erste schriftliche Zeugnis, in dem uns der Name "Harmersbach" begegnet, präsentiert uns das Tal als Teil einer umfangreichen geistlichen Grundherrschaft. Wie die "freie Marktgenossenschaft" ist auch dieser Begriff ein moderner, historisch-juristischer Ordnungsbegriff.(11) In den Quellen ist er erst am Ende des 16. Jahrhunderts nachweisbar. Er kennzeichnet eine fundamentale Organisationsform der mittelalterlichen Gesellschaft: die Verfügungsgewalt eines Herrn über Grund und Boden und die Herrschaft über die Menschen, die auf diesem Grundeigentum lebten und arbeiteten. Dabei begründete nicht die Vergabe von Land das eigentliche Herrschaftsverhältnis, sondern die Gewährung von Schutz und Schirm. Auch Maurer konstatierte diese Grund-Herrschaft als wichtige Gegebenheit der älteren Gesellschaftsordnung, freilich unter negativem Vorzeichen. Er sah deren Ausgangspunkt in der Zersplitterung der alten Marken in lauter Sondereigentum und leitete daraus die Entstehung von Ungleichheit des Besitzes ab. Dort, wo die wirtschaftliche Macht sich in der Form von Großgrundbesitz summierte, traten auch Befugnisse öffentlich-rechtlicher Natur hinzu, verliehen oder usurpiert.
Auch dieser Akkumulationstheorie trat Alfons Dopsch energisch entgegen. Er bestritt zwar nicht, dass das Grundeigentum eine wesentliche Rolle in der Herrschaftsbildung spielte, betonte aber, dass daraus nur dann Herrschaftsrechte erwuchsen, wenn der Grundeigentümer eine besondere Standesqualität besaß: "Der Adel, geistlich wie weltlich, erwarb jene Rechte nicht deshalb, weil er großer Grundbesitzer war, sondern vermöge seiner politischen Stellung neben dem König."(12)
Die Auseinandersetzung zwischen der klassischen Theorie der "Gemeinfreien" und der Adelsherrschaftstheorie ist bis heute noch nicht abgeschlossen. Es besteht jedoch weitgehende Übereinstimmung, dass Grundherrschaft mehr ist als das Verfügungsrecht über Grund und Boden und dass die Herrschaft über Menschen historisch primär war. Mangel an Land gab es ja nicht, wohl aber an Menschen, die es bebauen konnten.
Die frühmittelalterliche Grundherrschaft entwickelte sich durch Verteilung des unbebauten oder beschlagnahmten Landes durch den König bzw. dessen Führungsschicht, den Adel. Auch das Kloster Gengenbach verdankte sein Fundationsgut einer Adelsgruppe, die im Auftrag des Königs das rechtsrheinische Gebiet in die fränkische Herrschaft integrierte und mit Gengenbach einen wichtigen Stützpunkt für das Vordringen der Franken entlang der alten Kinzigstraße errichtete. Von hier aus konnte der Raum durch die Mönche gesichert und weiter erschlossen werden. In unserem Zusammenhang interessiert das Kloster also nicht als geistliches Zentrum, was selbstverständlich auch ein zentrales Thema ist, sondern das Kloster als Wirtschafts- und Verwaltungszentrum. Die erwähnte Papsturkunde von 1139 spricht zwar von dem Wunsch der Mönche, ihre aufrichtige Frömmigkeit (devocionis sinceritas) zum Leuchten zu bringen, im weiteren Urkundentext ist aber nur noch von deren Besitz und Gütern (possessiones er bona) die Rede. Erstmals wird für uns in dieser Zusammenfassung der umfangreiche Vermögenskomplex der Abtei Gengenbach fassbar.
Verwaltet wurde er in der klassischen Form der "Villikation".(13) Sie lässt sich in zwei Teile gliedern: Ein erster Bereich umfasste das vom Kloster in Eigenbetrieb bewirtschaftete Herren- oder Salland, das jeweils um einen zentral gelegenen Fron(= Herren)-Hof gruppiert war. Dieser Hof wurde von einem Maier geleitet; er war zuständig für das dazugehörige Hofgesinde, "des gotzhus lüte". Sie gehörten zur "Familia" des Klosters und standen demnach in persönlicher Abhängigkeit, also in der Leibherrschaft, die sie in dreifacher Weise "unfrei" machte:
1. in der Beschränkung der Freizügigkeit, wie sie uns heute im Artikel 11 des Grundgesetzes garantiert ist (wobei auch hier Einschränkungen möglich sind, etwa bei unzureichender Lebensgrundlage oder zur Abwehr drohender Gefahren);
2. in der Beschränkung des Erbrechtes, das uns heute der Artikel 14 des Grundgesetzes gewährleistet, ebenfalls mit dem Vorbehalt, dass Inhalt und Schranken durch die Gesetze bestimmt werden. Für die Klosterhörigen wurde sie in der Regel spürbar durch eine Abgabepflicht der Hinterbliebenen in der Form des besten Stück Viehes ("Besthaupt") oder des besten Gewandes ("Bestgewand");
3. in der Beschränkung des Eherechts durch Heiratsverbot mit Angehörigen einer anderen Grundherrschaft. Darin bestand die Unfreiheit der ominösen "Leibherrschaft", die im Bauernkrieg zu einem Kampfthema und später unter dem Stichwort "Sklaverei" gehandelt wurde.(14)
Ein zweiter Bereich des Villikationssystems betraf den Klosterbesitz, der in der Form von "Hufen" an Bauern ausgegeben wurde. Das beliehene Gut bewirtschaftete der "Leh(en)mann" völlig selbständig(15). Dafür leistete er dem Kloster fest vereinbarte Natural- oder Geldabgaben und dem Fronhof bestimmte Dienste. Das Gut, das er persönlich als Mann-Lehen auf Lebenszeit erhalten hatte, konnte er häufig in ein Erb-Lehen umwandeln, d.h. es blieb bei seiner Familie über Generationen hin. Daraus entwickelten sich fast automatisch stabile bäuerliche Besitzverhältnisse. Es kommt wohl nicht von ungefähr, dass sich das Kloster schon 1139 seinen gesamten Besitz vom Papst selbst absichern ließ.
Wie oben schon erwähnt, gehörte im Mittelalter zum Kern jeder Herrschaft, auch der Grundherrschaft, die Pflicht zu Schutz und Schirm. Für die Kirchen und Klöster wurde seit Karl dem Großen diese konkrete Aufgabe über die Institution der Vogtei geregelt.(16) Zwar erscheint der geistliche Grundherr auch als Beschirmer, aber um diesen Schutz wirksam zu halten, bedurfte er eines mächtigen Adligen. In den konkreten Herrschaftsstrukturen lässt sich freilich schon früh eine Gewichtsverlagerung von der Grundherrschaft zur Vogtei feststellen, zumal Letzterer nicht nur die Sicherung nach außen zukam, sondern auch die Beilegung von Konflikten im Innern. Diese richterliche Tätigkeit wurde sogar zum Kern der vogteilichen Kompetenzen. Für den Vogt wiederum entwickelte sich die Aufwandsentschädigung in der so genannten Vogtsteuer zu einem wirtschaftlich bedeutsamen Einnahmeposten. Herberge, Gastung, Teile der Strafgelder und vor allem regelmäßige Grundzinse waren eng daran gebunden.
Bezeichnenderweise ist auch bald von den Gefährdungen der Klöster durch ihre Vögte die Rede. Das Amt wurde gewissermaßen zum Einfallstor adliger Machtentfaltung. Streit zwischen Kirchen und ihren Vögten um Herrschaftsrechte gehörte schon im 10. Jahrhundert zum Alltag und bestimmte ganz wesentlich das Programm der klösterlichen Reformbewegung des 11. Jahrhunderts, der sich auch Gengenbach angeschlossen hatte; "Libertas ecclesiae" - "Freiheit der Kirche" hieß das wirksame Stichwort für Reformklöster wie Cluny oder Hirsau, um sich aus bedrückenden Bindungen an laikale Macht zu befreien.
Noch in der Papsturkunde für Gengenbach von 1139 klingt diese Auseinandersetzung deutlich nach. Den sechs Ortsnamen zum Elsass fügt das Privileg einen Rechtssatz hinzu, der sich direkt an den Abt wendet: "In diesen Dörfern des Elsass ist es dir und deinen Nachfolgern erlaubt, selbst einen Vogt einzusetzen (advocatum constituere), der sich um das Fortkommen und die Sicherheit eures Klosters kümmern muss." Ausdrücklich aber war diese Rechtsposition auf den elsässischen Besitz beschränkt, die Ortenau blieb folglich davon ausgenommen. Nur eines galt für den gesamten Klosterbesitz: "Kein Richter oder sonst eine rechtsweisende Gewalt (iudex vel iudiciaria potestas) darf es wagen, über euch und das Kloster, über eure Kirchen mit den dazugehörigen Siedlungen und über die Menschen, die als Freie oder Unfreie auf dem Klosterbesitz leben, irgendwelche rechtswidrigen Verfügungen zu erlassen und euch durch Steuern oder ungerechte Urteile zu belasten."
Adressaten des Verbots waren natürlich auch die Grafen der Ortenau, denen der König die Verwaltung des ortenauischen Reichsgutes übertragen hatte. Denn damit verbunden war auch die Vogtei des Gengenbacher Klosters. Sie lag bis 1218 in den Händen der Zähringer als der mit Abstand mächtigsten Familie dieses Raumes. Nach deren Aussterben übernahmen staufische Beamte diese Aufgabe. Eines, vielleicht sogar das wichtigste ihrer Verwaltungszentren war die Burg Ortenberg am Ausgang des Kinzigtals, sozusagen im Blickfeld des Klosters.(17) Ein Gengenbacher Mönch überlieferte uns auch den Namen des obersten Verwaltungsbeamten und bezeichnete diesen "Herrn von Bodman" als Richter seines Klosters, judex noster(18) Kaum war Rudolf I. von Habsburg im Oktober 1273 zum deutschen König gewählt und gekrönt, begann er damit, die Macht- und Existenzgrundlage seiner Herrschaft neu zu ordnen, indem er die Güter, Einkünfte und Rechte des Reiches sicherte. Im Zusammenhang dieser Revindikationsmaßnahmen in der Ortenau spielte wiederum die Abtei Gengenbach und ihre Grundherrschaft eine wichtige Rolle.
Ein herausragendes Zeugnis dieser Aktivitäten ist uns im Original überliefert. Es stammt vom Mai 1275 und bildet das Ergebnis einer konzertierten Aktion des Gengenbacher Abtes und des deutschen Königs.(19) Dieser hatte dazu eigens einen hochkarätigen Mann seines Vertrauens, den Grafen Heinrich von Fürstenberg, zu den Mönchen ins Kinzigtal geschickt, wegen der "gebresten, so sie hettent umb des klosters reht". Als Vogt des Klosters berief der Fürstenberger eine Versammlung ein, um das geltende Recht in einem "Weistum" festzuhalten. Die Entscheidungen, die hier getroffen wurden, beruhten nicht auf herrschaftlicher Verfügung, sondern nur auf den Voten der Anwesenden. Allein diese waren dafür zuständig, das Recht zu weisen, nicht der Richter: "und wurden dize reht, die hie nach geschriben stant, inme dinge zuo Gengenbach offenliche gesprochen unde erteilet, beide, dez closters reht, dz abbetz unde ander liute aller, die dar zuo dem closter hoerent". Die 31 Paragraphen, die sie formulierten, protokollierte vermutlich ein Angehöriger des Klosters und reichte sie der königlichen Kanzlei zur Besiegelung ein.
Nicht weniger als sechs deutsche Könige und Kaiser haben diesen Grundtext der gengenbachischen Kloster-Herrschaft später unverändert bestätigt.(20) Als Kaiser Ludwig der Bayer 1331 die Urkunde erneuerte, ließ er die Rechtsweisungen von 1275 zunächst einmal vollständig abschreiben, um sie aber sofort durch weitere Paragraphen zu ergänzen. Offensichtlich stellte man fest, dass erheblicher Klärungsbedarf vorlag. So entstanden vier unterschiedliche Versionen des Rechtstextes; drei davon liegen noch im Original vor, Aus den 31 Artikeln des Rudolf-Weistums von 1275 wurden in der letzten Fassung von 1131 genau doppelt so viele, obwohl einige Artikel des ursprünglichen Textes als überflüssig ausgemustert wurden.
Theodor E. Mommsen mühte sich 1936 um eine detaillierte urkundenkritische Untersuchung;(21) sie wird von der Forschung bis heute mit höchstem Respekt zitiert, ansonsten aber eher gemieden. Denn die von ihm analysierten Urkunden führen in eine höchst komplizierte Gemengelage hinein, wo sich auf engstem Raum Rechte des Klosters und des Reichs, der Städte und. der Gemeinden vielfältig überschnitten. Selbst Klostervorsteher des 14. und 15. Jahrhunderts hatten damit ihre Not und zogen es vor, die alte Version von 1275 durch die kaiserliche Kanzlei bestätigen zu lassen. Aus dem, was in diesen Jahren zur Debatte stand, drängen sich besonders drei Konfliktfelder in den Vordergrund, die das spannungsreiche Verhältnis unterschiedlicher Herrschaftsansprüche widerspiegeln.
Durch die schon erwähnte Papsturkunde von 1139 kennen wir die Namen von Besitz und Gütern des Klosters in der Ortenau. Ob es sich dabei um einen geschlossenen Komplex handelt oder nur um verschiedene räumliche Schwerpunkte, ist nicht zu entscheiden, da sich innerhalb der klösterlichen Grundherrschaft Kern- und Randzonen von unterschiedlicher Intensität und Dichte herausgebildet hatten. Gegen Mitte des 13. Jahrhunderts tauchen zwei Grenzbezeichnungen auf, die in dem Weistum von 1275 eine wichtige Rolle spielen: "Velletürlin und Swigerstein". Zwischen diesen beiden offensichtlich sehr alten Grenzstationen lag "des Klosters Eigen". Mit guten Gründen lokalisierte Karlleopold Hitzfeld das Vellerürlin an der Reichsstraße oberhalb von Ortenberg und schloss damit eine lang andauernde Diskussion um die Grenze des eigentlichen Klostergebietes im unteren Kinziglal ab.(22) Sie liefe dann entlang einer Linie, die zwei völkerwanderungszeitliche Höhenstationen am Ausgang des Kinzigtales miteinander verband, den Keugeleskopf bei Ortenberg an der nördlichen Flanke und den Geißkopf bei Berghaupten an der südlichen Flanke des Kinzigtalausgangs. Erst kürzlich machten zwei Forscher der Ur- und Frühgeschichte auf diese wichtigen alemannischen Höhensiedlungen in der Ortenau aufmerksam.(23) Den Namen Gschweigenstein trägt noch heute die Bergnase, die sich zwischen Haslach und Hausach der Kinzig zustreckt und wohl auch seit alter Zeit einen markanten Orientierungspunkt der Straßburger und Konstanzer Bistumsgrenze bildete. "Enzwischent dizen zwein ziln Velliturlin unde Swigenstein" nahm der Abt ausdrücklich das volle Verfügungsrecht eines Grundherrn in Anspruch: Nur er durfte hier alle Güter als Mannlehen oder Erblehen ausgeben, nur er hatte hier das Recht, alle Ämter zu verleihen und über die Allmende samt den Gewässern zu verfügen.
Geographisch betrachtet gehört das Harmersbachtal zum Kern dieses Gebietes. Es brauchte also 1275 nicht eigens erwähnt zu werden. Dafür erscheint wenige Jahre später sein Name zweimal in einer neuen Papstsurkunde, die sehr viel detaillierter den Besitz und die Rechte der Abtei auflistet.(24) Zuerst steht Harmersbach unter den neun Tälern, in denen das Fischereirecht ausschließlich dem Kloster zusteht, ein zweites Mal unter den Kirchen, bei denen das Kloster das Patronatsrecht beanspruchte. Von einem herausgehobenen Klosterhof als Mittelpunkt einer klösterlichen Wirtschafts- und Verwaltungseinheit im Harmersbachtal lesen wir aber erstmals zum Jahre 1331.(25) Es ist anzunehmen, dass bis dahin das Tal dem Klosterhof in Zell am Harmersbach zugeordnet war und nun ein eigenes Zentrum nahe der alten Kirche erhielt, mit eigener Verwaltung und eigenem grundherrlichen Gericht. Für den reibungslosen Betrieb wurde ein "Freiknecht" eingesetzt, der bei Übernahme des Amtes einen dreifachen Eid zu leisten hatte, nämlich dem Abt, dem Maier und dem Tal zu Harmersbach die ihnen zustehenden Rechte zu sichern:
"einem apt und gotzhuse sin zinß an den enden jerlichen getruwlich zuo samelen und andre des gotzhuß recht hanthaben und zuo behalten. Und auch by dem selben eid einem meyer und der tale menige Ire recht by guotter gewonheit [als] herbrocht ist zu tuond alles ungeverlich."(26) Eine Formulierung lässt besonders aufhorchen:
"der tale menige". Sie bezeichnet die Gemeinde des Tales und seiner Seitentäler. Die Bauern erscheinen hier als Siedlungsgemeinschaft, deren "gute Gewohnheiten" vom Verwalter des klösterlichen Freihofes zu respektieren waren.
Der neu organisierte Harmersbacher Hofverband erhielt genau dieselbe Rechtsstellung wie die fünfzehn alten Klosterhöfe, denen der deutsche König Adolf von Nassau 1297 bei seinem Aufenthalt in Offenburg urkundlich zusicherte, dass ihre Bauern völlig frei von Steuern und Leistungen seien.(27) Kaiser Ludwig wiederholte 1331 diese Bestätigung: Alle zum Hof gehörenden Leute sollen "vri sin an stiure und an diensten" - gegenüber dem "castvogt ze Ortenberg."(28) Lediglich eine Art Anerkennungsgebühr war jährlich zu entrichten: ein Pfund Pfeffer. So wurde aus dem Harmersbacher Fronhof des Klosters der "Freihof" des Klosters. Bis heute ist diese Geschichte in der Wirtschaft "zum Freihof" noch am selben Ort lebendig geblieben.
Der Pfeffer signalisierte dem Vogt die grundsätzliche Anerkennung seiner Gewalt. Es blieb unbestritten, dass die Wahrung des Rechts innerhalb des Klostergebietes in den Händen des Reichslandvogtes lag. Die Würze lag in Detailfragen, die auch das Weistum von 1275 nur unzureichend klärte. Völlig selbstverständlich erscheint darin der Vogt als beauftragter Bote des Königs. Dancben aber nennt das Weistum noch "andere gerichte uff des closters eigen", an denen Ortsvögte das Richteramt ausübten. Wer sie ins Amt berief, war 1275 kein Thema. 1331 lautete die Formel: Nur der Abt durfte im Gebiete zwischen Gschweigenstein und Velletürlin die Lehen und Ämter verleihen, ausgenommen die Vogteien: "ane die vogtien; die rüerent von einem riche; die lihet ein keiser oder kunig"(29). Eine klare Aussage. Und es ist ausdrücklich von einer Mehrzahl die Rede. Aber ebenso eindeutig war die Erwartung formuliert: Wem auch immer das Vogtrecht über das Klostereigen verliehen ist, "der soll sweren einem abt von Gengenbach des gotzhus recht zu haltende und stäete zu habende"(30).
Dreimal jährlich, zu genau festgelegten Terminen, hatte der Kastvogt zu Gengenbach Gerichtstag (= ding) abzuhalten "mit den lüten, die da heizent fünfschezer, unde mit den ambachtlüten. Unde swaz die sprechent ze urteilde über das guot unde über die liute, die an das gotzhus hörent, daz soll nieman fürbaz ziehen" (vor ein anderes Gericht ziehen).(31) Diese Scheidung von Urteiler und Richter, von Rechtsfindung und Rechtszwang, war im Mittelalter die selbstverständliche Form der Gewaltenteilung und warf höchstens die Frage auf, wie sich das Urteilergremium zusammensetzen sollte. Hier werden zwei Gruppen genannt: "Fünfschätzer" und "Amtleute" des Klosters. Da der Begriff "Fünfschätzer" sonst nirgends zu finden ist, kann ich nur mutmaßen, dass es sich um einen Ausschuss von fünf Bauern der klösterlichen Grundherrschaft handelt, die den Gegenstand des Gerichtsstreites abschätzten und beurteilten, Es sind jedenfalls nicht, wie es meist dargestellt wird, die fünf leitenden Beamten der Klosterherrschaft. Diese werden ja als eigene Gruppe aufgeführt. Den Urteilern stand die endgültige Entscheidung zu, die der Vogt zu verkünden hatte und nicht an eine höhere Instanz weiterleiten durfte.
Ganz ähnlich funktionierte auch im Harmersbachtal die Gerichtsverfassung. Der hier amtierende Talvogt war verpflichtet, dreimal jährlich das Dinggericht zu fest vereinbarten Terminen einzuberufen. Das Urteilergremium setzte sich hier aus zwölf Bauern zusammen. Gerichtsort für alle Bauern war der Freihof.
Dank seiner außerordentlich einflussreichen Position am kaiserlichen Hof erreichte der Gengenbacher Abt Lambert von Brunn 1366 ein wichtiges Zugeständnis Kaiser Karls IV. zugunsten des Klosters. Schon in der Einleitung des großen Privilegs für die Stadt Zell und die Täler Harmersbach und Nordrach ließ er sich von höchster Stelle bestätigen, dass er, der Abt, an diesen Orten "zu geben und zu setzen hat Schultheißen und weltlichen richteren und anders niemant"(32). Im Gegenzug setzte Karl IV. den Instanzenweg vom Tal-Gericht an das kaiserliche Hofgericht durch.
Die Aufwandsentschädigung des Gerichtsvorsitzenden war seit 1275 ein Dauerthema. Damals wurde festgelegt, dass die Gerichtseinnahmen, die durch die Strafen fällig wurden, an den Abt gingen. Davon erhielt der Vogt sein Entgelt: In Gengenbach schuldete man ihm beim ersten Termin ein ausgewachsenes Schwein, Brot von sieben Sester Weizen, ein Ohm (150 l) Wein, dazu Futter für sechs Pferde und ein Maultier; zu den übrigen Terminen erhielt er etwas weniger und anstelle des Schweins ein Schaf oder Fische. Bei den anderen Gerichten innerhalb der Klosterherrschaft wurden die Einnahmen formal zugeteilt: zwei Drittel dem Abt, ein Drittel dem Richter.
Zu den Ad-hoc-Einnahmen des Vogtes kamen die regelmäßigen Bezüge über die Vogtsteuer. Sie wurde, wie schon erwähnt, nicht eingefordert von all denen, die unmittelbar zu einem Klosterhof gehörten. Zum Ausgleich scheint mir die Abtei 1275 ein Angebot gemacht zu haben. Da ist nämlich die Rede von "den neuen Gütern, die da verdinget wurden". Ich möchte es übersetzen mit: "die dem Gericht (= Ding) übertragen wurden". Demnach gab das Kloster bestimmte Güter an die Vogteien ab, umso das Gerichtswesen funktionsfähig zu halten.
Ich sehe darin die Grundlage für die berühmte Aktion, mit der Kaiser Ludwig der Bayer im August 1330 die Verpfändunsswelle von Ortenauer Reichsgut eingeleitet und das Harmersbachtal zum "freien Reichstal" gemacht hat(33). Er versetzte nämlich dem Enkel jenes Grafen Heinrich von Fürstenberg, der 1275 die Versammlung in Gengenbach geleitet hat, namentlich genannte Güter am unteren Harmersbach; er solle sie "inne haben in pfandes weiz und niezzen an eins reichs statt mit allen nuzen, rechten, eren, zugehoerden und gewonheitten". Nur von Einzelgütern ist die Rede, nicht vom ganzen Harmersbachtal, zu dessen Gerichtsbezirk sie gehörten.
Um diesen Verpfändungsvorgang zu erklären, verweist die Forschung auf einen Artikel der Urkunden von 1331: "Falls ein Kaiser oder König aus der Vogtei, die seit alter Zeit zu Ortenberg gehört, eine Stadt oder ein Dorf oder ein Tal herausbräche und das Vogtrecht versetzte, wer immer dann dort Vogt wäre, der soll dem Abt von Gengenbach schwören, des Klosters Recht zu achten."(34) Vogtei meint hier nicht den Raum der Landvogtei Ortenau, sondern eine Funklion dieser Verwaltungseinheit, eben die Gerichtsherrschaft, die lokal ausgeübt wird. Zur Ausstattung des Gerichtes gehörten jene "verdingten Güter", von denen das Kloster selbst keine Abgaben mehr bezog. Stutzt man "das freie Reichstal" auf dieses kleinere Format zurück, dann lässt sich auch leicht die Adresse erklären, an die sich der Fürstenberger wandte, als er 1363 zugunsten des Straßburger Bischofs auf die Pfandschaft verzichtete. Er teilte seine Entscheidung "dem vogete, den gesworn und der gemeinde des tales zu Hademarsbach" mit.(35)
Das dritte Konfliktfeld ist damit angesprochen: die bäuerliche Gemeinde. In der Adresse erscheint sie als Gerichtsgemeinde, die sich im Tal gebildet hatte. Üblicherweise verbinden wir mit dem Gemeindebegriff drei Aspekte: ein Personenverband, dessen lokale Begrenzung und dessen Recht auf selbstständige und eigenverantwortliche Verwaltung der örtlichen Angelegenheiten. In einer Zeit, die immer mehr den rundum versorgten Staatskunden kennt, wird die Geschichte des "freien Reichstals" zu einer Art von Gegengeschichte. Nicht nur das Reich erscheint hier als politische Kraft, auch die Bauern des Tales nehmen aktiv am politischen Geschehen teil.
Karl Siegfried Bader hat in seinen Studien zur Rechtsgeschichte des mittelalterlichen Dorfes den Blick auf die ländliche Gemeinde gelenkt und deren Bedeutung in den Verfassungsstrukturen der spätmittelalterlichen Gesellschaft hervorgehoben, zumal es vom andern Gemeindemodell des Mittelalters, der Stadt, völlig an den Rand gedrängt worden war. Peter Blickle hat diesen Gedanken aufgenommen und mit seinem "Kommunalismus"-Begriff eine breitere Diskussionsbasis angeboten. Sein Ziel war es, die Bauern nicht mehr als Objekt der Geschichte zu sehen, passiv und unpolitisch, sondern als eine Kraft, die selbstbewusst den eigenen Lebens- und Rechtsraum gestaltet. Noch immer nährt sich unsere Vorstellung von dem Gegensatz Stadt - Land und verbindet damit das Werturteil: Handel und Gewerbe der Stadt = modern, agrarische Welt = konservativ. Die Kommune als politische Figur zeigt freilich beide Male die gleichen Strukturen und thematisiert das spannungsreiche Verhältnis von Herrschaft und Genossenschaft.
Einen kleinen Ausschnitt davon können wir hier im Harmersbachtal betrachten. Das Kloster selbst hatte bereits im grundherrlichen Fronhof und in der Pfarrkirche gewisse Kommunikationszentren aufgebaut, in denen wirtschaftliche, administrative und kulturelie Einzelinteressen leicht zusammengeführt werden konnten. Aus dem nachbarschaftlichen Miteinander der Bauern wurde eine Wirtschafts- und Nutzungsgemeinschaft, die das Alltägliche eigenständig organisierte: Wege und Brücken des Tales instand halten, Wasserläufe pflegen, das Feld miteinander bewirtschaften, Weide und Wald gemeinsam nutzen usw. Seit dem 12. Jahrhundert kannte man für diese gemeinschaftliche Nutzung einen eigenen Begriff: Allmende. Er entwickelte sich rasch zu einem Rechtsbegriff. Als der Klosterwald den wachsenden Bedarf an Bau- und Brennholz nicht mehr befriedigen konnte und die Flächen für Viehweide und Schweinemast nicht mehr ausreichten, wurde es notwendig, die Nutzung näher zu regeln. Im jeweiligen Anteil an dieser Nutzung wird das Kräfteverhältnis zwischen klösterlicher Grundherrschaft und bäuerlicher Genossenschaft gut ablesbar. Denn: prinzipiell blieb die Allmende in der "Eigenschaft" des Klosters, aber dieses Recht wurde überlagert durch die Mitnutzungsrechte der Bauern. Das Weistum von 1275 formulierte, ohne auch nur ein einziges Mal den Begriff "Allmende" zu verwenden, genaue Vorschriften zu Wald- und Wassernutzung, zu Brückenbau, zu Schweinemast usw., setzte Nutzungsgebühren fest und bestand auf Genehmigungsvorbehalten durch den Abt. Dass derartige Bestimmungen aufgenommen wurden, lässt auch darauf schließen, dass man sie umgangen hat.
In der überarbeiteten und erweiterten Fassung von 1331 gehörte der Allmende-Begriff bereits zum geläufigen Vokabular. In seinem Umfeld erscheint auch erstmals, aber regelmäßig der Terminus "Gemeinschaft" oder "Gemeinde". Ihr wurde nun zugebilligt, selbstständig Anordnungen zur Allmende treffen zu können und Verträge abzuschließen ("gebot oder einung machen") oder Teile der Allmende zu verpachten, ja sogar zu verkaufen. Aber es wurde immer hinzugefügt, dass dies nur mit Zustimmung des Abtes geschehen dürfe. Die Begründung lautete: "-wan die almende zwischent Swigestein und Velletürli geben ist den lüten von des gotzhus eigen".(36) Deshalb lehnte das Kloster jede Einschränkung seiner eigenen Nutzungsrechte ab, etwa im Wald oder auf der Weide. Als Partner stand ihm aber nicht mehr eine Vielzahl zinspflichtiger Bauern gegenüber, sondern eine Dorfgemeinschaft, die aus unfreien Bindungen herauswuchs und mehr und mehr selbstständig agierte. Diese bäuerliche Gemeinde beseitigte nicht die alten grundherrschaftlichen Strukturen, aber überlagerte sie und schwächte sie ab. Die Spielräume ihres Handelns waren vielgestaltig und in ständigem Prozess. An Schnittstellen der unterschiedlichen Herrschaftssphären, etwa beim Gericht des Freihofs, ergab sich noch über Jahrhunderte hin eine Fülle von Konfliktstoff.
1802 entwarf der Freiherr von Roggenbach für den Karlsruher Hof ein Bild der Harmersbacher in den kräftigsten Farben: "Das freie Reichstal Harmersbach hat bisher im strengsten Sinne eine demokratische Verfassung gehabt, die oft in Anarchie ausgeartet sein soll. Diese Bauern lieben die Jagd und führen meist ihre gezogenen Büchsen. Sie haben seither nur sehr geringe Abgaben entrichtet, wissen auch nichts von Accis und Pfundzoll, weder vom Weg- noch Brücken- und Chaussegeld".(37) Hansjakob hätte diesen Lagebericht des adligen Verwaltungsbeamten gewiss mit großem Vergnügen zur Kenntnis genommen.
Unversehens war aus der Herrschaft über Bauern eine Herrschaft mit den Bauern geworden. Erst die Neuzeit schränkte mit der wachsenden Monopolisierung staatlicher Gewalt und der Rationalisierung der Verwaltungsebenen ihre Freiräume wieder erheblich ein. Aber noch im 18. Jahrhundert hatte der Harmersbacher Vogt vor Gott und den Heiligen zu schwören,
(1.) der Römisch Kayserlichen Majestät,
(2.) dem Abt des Klosters Gengenbach und
(3.) denen des Heil. Reichs Tals Harmersbach treu und hold zu sein. Er stand folglich nicht nur in der Pflicht des Kaisers und des Reichabtes, sondern auch der Talgemeinde.
Blicken wir zurück in die Geschichte des freien Reichstals, so nehmen wir keine "freie Bauernrepublik" wahr, auch keinen "Uradel der menschlichen Geseilschaft" und keine "Bauern, die an die fürstliche Tafel geladen wurden", sondern ein Stück lebendige "Geschichte von unten", die sehr wohl den "gemein mann" zum selbstbewussten Teilhaber am öffentlichen Leben machte. Unsere herkömmliche Vorstellung mittelalterlicher Herrschaft, die besetzt ist von Begriffen wie aristokratisch, feudal, hierarchisch, erweist sich als zu eng, wenn wir hier im Harmersbachtal Mischformen herrschaftlicher und gemeindlicher Zuständigkeiten feststellen können. Die Entwicklung zum modernen Staat ist ohne solche kleinräumigen Kommunikationsprozesse kaum vorstellbar. Den "Erzbauern" im Kinzigtal sei Dank!
Anmerkungen
Geringfügig erweiterte und mit Anmerkungen versehene Fassung des Festvortrags zur Jahresversammlung des Historischen Vereins für Mittelbaden am 13. Oktober 2002 in Oberharmersbach.
1.) Hansjakob, Heinrich: Der letzte Reichsvogt, in: Schneeballen. Erzählungen aus dem Kinzigtal, 1. Reihe, 12. Aufl, 1964, 147 - 237, hier 176. Ob sich Hansjakob dabei auf schriftliche Quellen stützte, erfahren wir nicht von ihm. Cordes, A.: Stuben und Stubengesellschaften (Quellen u. Forsch, #, Agrargeschichte, 38), 1993, 134 f., vermutet, dass er dafür sehr wohl die Bestände des Generallandesarchivs Karlsruhe 229 / 385344-75 benutzt habe. ▲
2.) Der letzte Reichsvogt (wie A, 1), 222 ▲
3.) Der Bericht, den Roggenbach dem badischen Hof unmittelbar vor Übernahme des neuen Staatsgebietes vorlegte, sollte aus erster Hand brauchbare Informationen liefern über das Land und seine politische Verfassung, über die Stimmung und Erwartung des Volkes und über die Brauchbarkeit der derzeitigen Beamten. Der Text wurde ediert von Rest, J.: Zustände in der südlichen Ortenau im Jahre 1802, in: Die Ortenau (11) 1924, 19 - 30 ▲
4.) Blickle, Peter: Kommunalismus. Skizzen einer gesellschaftlichen Organisationsform. Bd. I: Oberdeutschland. Bd. II: Europa, München 2000 (mit umfangreicher Literatur); - Ders.: Deutsche Untertanen, Ein Widerspruch, München 1981 ▲
5.) Maurer, Georg Ludwig von: Einleitung zur Geschichte der Mark-, Hof-, Dorf- und Stadt-Verfassung und der öffentlichen Gewalt, 1. Aufl. 1854, 2. Aufl. 1896 ▲
6.) Deutsches Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm, VI, 1895, Sp. 1634 ▲
7.) Dopsch, Alfons: Die Grundherrschaft im Mittelalter, in: Abhandl. z. Rechts- und Wirtschaftsgesch., Festschrift für A. Zycha, 1941; Wiederabdruck in: Deutsches Bauerntum im Mittelalter, hrsg. v. G, Franz (Wege der Forschung, 416) 1976, 281 - 297 ▲
8.) Bader, Karl S.: Studien zur Rechtsgeschichte des mittelalterlichen Dorfes. 2. Teil: Dorfgenossenschaft und Dorfgemeinde 1962; Zitat im 1. Teil, 6 ▲
9.) Lehmann, Karl-August: Harmersbach. Die Geschichte eines Tales, Bd. I, 1989 ▲
10.) Lateran, 1139, Februar 28, ed. Württembergisches Urkundenbuch II, 1858, 7 - 9, Nr. CCCX ▲
11.) Schreiner, Klaus: "Grundherrschaft". Entstehungs- und Bedeutungswandel eines geschichtswissenschaftlichen Ordnungs- und Erklärungsbegriffs, in: Die Grundherrschaft im späten Mittelalter, hrsg. v. H. Patze (Vorträge u. Forschungen, Bd. 27), I, 11 - 74 ▲
12.) Dopsch, Alfons: Herrschaft und Bauer in der deutschen Kaiserzeit, 1938, 6 ▲
13.) Rösener, Werner: Villikation, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 8, 1997, 1694 f. - Ders., Hrsg.: Grundherrschaft und bäuerliche Gesellschaft im Hochmittelalter (Veröffentlichung des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 115), 1995 ▲
14.) Vgl. den Artikel 59 der Klageschrift, welche die Stühlinger Bauern am 6. April 1525 dem Kammergericht übergaben: "Die Leibaigenschaft Belangen. Wiewol von Recht ain jeder anfengklich frei geporn, und un das wir oder unsere Vorfaren je verschuldt hetten, das wir zu der Leibaigenschaft genomen werden sollten, jedoch wellent unsere Herrschaft uns für eigen Leut haben, halten und vermeinen, das wir inen alles tun sollen, was sie uns heißen, als weren wir pesporn knecht". Ed. Franz, Günther Hrsg., Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges, 1963, 121 f. - Müller, Walter: Entwicklung und Spätformen der Leibeigenschaft am Beispiel der Heiratsbeschränkungen (Vorträge und Forsch., Sonderband 14) 1974; - Ders.: Wurzeln und Bedeutung des grundsätzlichen Widerstandes gegen die Leibeigenschaft im Bauernkrieg 1525, in: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung (93) 1975, 1 - 41 ▲
15.) Nach dem ältesten noch erhaltenen "Ehebuch" von Oberharmersbach, geführt seit 1789, hießen fast 15 Prozent der Harmersbacher Familien "Lehmann", wesentlich mehr als "Huber". ▲
16.) Simon, Thomas: Grundherrschaft und Vogtei. Eine Strukturanalyse spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Herrschaftsbildung (Jus commune, Sonderheft 77), 1995 ▲
17.) Vollmer, Franz: Burg Ortenberg und Bühlwegkapelle. Zwei Zeugen Ortenauer Vergangenheit, 1976 ▲
18.) Schulte, Aloys: Acta Gengenbacensia 1233 - 35, in: Zeitschr. f. Gesch. des Oberrheins N. F. 4, 1889, 90 - 114, hier 107. ▲
19.) Fürstenbergisches Urkundenbuch, bearb. V. S. Riezler, IV, 1879, 441 - 444, Nr. 485; das Original befindet sich im Generallandesarchiv Karlsruhe unter der Signatur D 86 ▲
20.) 1293 Adolf von Nassau, 1300 Albrecht I., 1309 Heinrich VII., 1331 Ludwig der Bayer, 1353 Karl IV., 1420 Sigismund ▲
21.) Mommsen, Th. E.: Die Landvogtei Ortenau und das Kloster Gengenbach unter Kaiser Ludwig dem Bayern. Eine urkundenkritische Untersuchung. In: Zeitschr. f. die Gesch. d. Oberrheins N. F. 49, 1936, 165 - 213 ▲
22.) Hitzfeld, Karlleopold: Die Grafschaft Gengenbach, in: Die Ortenau (45) 1965, 132 - 156, hier bes. 138 ff. ▲
23.) Hoeper, Michael und Steuer, Heiko: Eine völkerwanderungszeitliche Höhenstation am Oberrhein - der Geißkopf bei Berghaupten, Ortenaukreis, Höhensiedlung, Kultplatz oder Militärlager?, in: Germania (77) 1999, 185 - 246 ▲
24.) Papst Nicolai IV. Bulla Confirmationis aller Privilegien, Recht und Freiheiten der Abtey Gengenbach de Anno 1287, ed. Lünig, Spicilegium Ececlesiasticum III. Teil 301 - 303; als Kopie auch in GLA Karlsruhe 30 / 90, 1287, XI ▲
25.) Mommsen (wie Anm. 21), 206 ▲
26.) In dem Bericht von 1426, der den Titel trägt: "Des closters zuo Gengenbach frigen Hofes recht im tale zuo Harmerspach sint hie noch des selben tales gesprochen urteil beschriben und also an herrn Conradten apte zuo Gengenbach komen", GLA Karlsruhe 67 / 627, f. 86 rv. ▲
27.) Mommsen (wie Anm. 21), 190 ▲
28.) Mommsen (wie Anm. 21), 206 ▲
29.) Mommsen (wie Anm. 21), 198 und 203 ▲
30.) Mommsen (wie Anm. 21), 208 ▲
31.) Fürstenberg, Urkundenbuch IV (wie Anm. 19), 440 f., Nr. 485. ▲
32.) Urkunde Karls IV., Prag, 25. März 1366, als Insertionsurkunde im Privileg König Wenzels vom 13. Januar 1393, überliefert im Kopialbuch GLA Karlsruhe 67 / 624, f. 116 r - 121 r; Lehmann (wie Anm. 9) I, 313 - 316, ediert den Text aus einer anderen Überlieferung: Hauptstaatsarchiv Stuttgart, C. 10 Büchel 1441. ▲
33.) 1330, August, 6., Hagenau: Ludwig der Bayer verpfändet Harmersbach an den Grafen Heinrich von Fürstenberg. Alte Edition: Fürstenberg. Urkundenbuch II, 110 f., Nr. 167; Moderne Edition mit Paralleldruck der unterschiedl. Überlieferung: Bansa, H.: Die Register Kaiser Ludwigs des Bayern, II, 1974, 353 - 355, Nr. 522. Zur Verpfändung des Harmersbachtales: Lehmann (wie Anm. 9), I, 62 ff. ▲
34.) Mommsen (wie Anm. 21), 208 ▲
35.) Fürstenberg. Urkundenbuch II, 251 f., Nr. 376 ▲
36.) Mommsen (wie Anm. 21), 195 ▲
37.) Zustände in der südlichen Ortenau (wie Anm. 3), 26 ▲
Eugen Hillenbrand, In den Sauermatten 7, 79249 Merzhausen